Beschreibung
Die Bevölkerung von Philadelphia wird mit Verbrechen konfrontiert, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen: Ein eiskalter Mörder hat es auf katholische Mädchen abgesehen und lehnt sich bei seinen Tötungsritualen an die Passion Christi an. Für die Kriminalbeamten Kevin Byrne und Jessica Balzano beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn das Osterfest steht kurz bevor, und für diesen Termin hat sich der Killer die Krönung seiner mörderischen Aktivitäten vorbehalten.
Leseprobe
2. Montag, 5.15 Uhr Dies hier ist die andere Stadt, diejenige, die William Penn sich niemals vor Augen führte, wenn er seine grüne Stadt auf dem Lande zwischen dem Schuylkill und dem Delaware River betrachtete, wenn er von griechischen Säulen und Marmorhallen träumte, die majestätisch über den Kiefern in den Himmel ragen sollten. Dies ist nicht die Stadt des Stolzes und der Geschichte und der Visionen, nicht jener Ort, an dem die Seele einer großen Nation geboren wurde. Nein, dies hier ist ein Teil Nord-Philadelphias, wo lebende, hohläugige Geister durch die Dunkelheit irren. Dies ist ein elender Ort, ein Ort voller Ruß und Kot und Asche und Blut, ein Ort, wo Menschen sich vor den Blicken ihrer Kinder verstecken und ihre Würde für ein Leben in entsetzlichem Elend verlieren. Ein Ort, an dem junge Tiere alt werden. Wenn es in der Hölle Slums gäbe, würden sie bestimmt so aussehen. Doch an diesem scheußlichen Ort wird etwas Schönes entstehen. Ein Garten Gethsemane inmitten des aufgerissenen Betons, des vermoderten Holzes und der zerstörten Träume. Ich stelle den Motor ab. Es ist ruhig. Sie sitzt reglos neben mir, als hätte sie in diesen letzten Augenblicken ihrer Jugend bereits den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Ihr Profil sieht aus wie das eines Kindes. Ihre Augen sind weit geöffnet, doch ihr Blick ist blind. Es gibt einen Zeitpunkt in der Jugend, da ein Mädchen, das gerade noch fröhlich über den Bürgersteig hüpfte und mit lauter Stimme Lieder trällerte, diese kindlichen Vergnügungen aufgibt und durch einen Anspruch auf die Weiblichkeit ersetzt. Es ist eine Zeit, da Geheimnisse geboren werden, ein Repertoire heimlichen Wissens, das niemals enthüllt wird. Es geschieht bei allen Mädchen zu unterschiedlichen Zeiten manchmal mit zwölf- oder dreizehn, manchmal erst mit sechzehn oder später , aber es geschieht immer, in jeder Kultur, jeder Rasse. Es ist der Moment, der nicht etwa durch den Beginn der Menstruation gekennzeichnet wird, wie viele glauben, sondern durch das Wissen, dass der Rest der Welt und vor allem die Männer sie plötzlich mit anderen Augen betrachten. Und von diesem Moment an verändert sich das Gleichgewicht der Kräfte für immer. Nein, sie ist keine Jungfrau mehr, aber sie wird wieder eine Jungfrau sein. Dort an der Säule wird es eine Geißelung geben, und von diesem Fluch wird die Auferstehung ausgehen. Ich steige aus, schaue nach links und rechts. Wir sind allein. Die Nachtluft ist kühl, obwohl die Tage für die Jahreszeit ungewöhnlich warm sind. Ich öffne die Beifahrertür und nehme ihre Hand. Keine Frau, kein Kind. Gewiss kein Engel. Engel haben keinen eigenen Willen. Aber dennoch eine umwerfende Schönheit. Ihr Name ist Tessa Ann Wells. Ihr Name ist Magdalena. Sie ist die Zweite. Sie wird nicht die Letzte sein. 3. Montag, 5.20 Uhr Dunkelheit. Eine Brise weht Abgase und andere Gerüche herüber. Den Geruch nach Öl. Kerosin vielleicht. Und den Gestank von Müll und Schweiß. Eine Katze faucht, dann
Stille. Er trug sie eine verlassene Straße hinunter. Sie konnte nicht schreien. Sie konnte nicht gehen. Er hatte ihr eine Droge gespritzt, die ihre Glieder lähmte. Ein grauer Schleier hatte sich über ihren Verstand gelegt und trübte ihre Wahrnehmung. Für Tessa Wells bestand die Welt aus einem raschen Wechsel von blassen Farben und flüchtigen Blicken auf geometrische Formen. Die Zeit blieb stehen. Erstarrte. Sie öffnete die Augen. Sie waren in einem Gebäude. Stiegen eine Holztreppe hinunter. Der Geruch von Urin und verschimmeltem Essen. Sie hatte lange nichts mehr gegessen, und bei dem Gestank verkrampfte sich ihr Magen; Galle stieg ihr in die Kehle. Er setzte sie vor eine Säule und legte ihre Glieder zurecht, als wäre sie eine Puppe. Dann legte er ihr etwas in die Hand. Den Rosenkranz. Die Zeit verging. Ihr Bewusstsein schwand. Als er ihre Stirn berührte, öffnete sie wieder die Augen. Sie spürte die Form des Kreuzes, das er dort aufmalte. Mein Gott, salbt er mich? Plötzlich flackerten Erinnerungsfetzen auf. Eine lebhafte Erinnerung an ihre Kindheit. Sie erinnerte sich
an den Ritt durch Chester County und wie der Wind über ihr Gesicht strich und an den Weihnachtsmorgen und wie der Kristall ihrer Mutter die farbigen Lichter des großen Baumes reflektierte, den ihr Vater jedes Jahr brachte, und an Bing Crosby und das alberne Lied über Weihnachten auf Hawaii
Jetzt stand er vor ihr und zog einen Faden durch eine lange Nadel. Er sprach leise und monoton. Latein? Als er den dicken schwarzen Faden fest verknotete
Wusste sie, dass sie diesen Ort nicht mehr verlassen würde? Wer würde sich um ihren Vater kümmern? Heilige Maria, Mutter Gottes
Er hatte sie gezwungen, lange Zeit in dem kleinen Raum zu beten. Er hatte ihr obszöne Worte ins Ohr geflüstert. Sie hatte gebetet, es möge ein Ende nehmen. Bete für uns Sünder
Er schob ihren Rock bis zur Taille hoch. Er kniete sich hin und spreizte ihre Beine. Die untere Hälfte ihres Körpers war vollkommen gelähmt. Bitte, lieber Gott, mach, dass es aufhört.
jetzt und
Mach, dass es aufhört.
jetzt und in der Stunde unseres Todes
Dann sah sie an diesem feuchten, verfallenen Ort, dieser Hölle auf Erden, den Stahlbohrer funkeln, hörte das Surren des Motors und wusste, dass ihre Gebete endlich erhört worden waren.