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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446205284
Sprache: Deutsch
Umfang: 192 S.
Format (T/L/B): 2 x 21 x 13.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Was macht komische Bücher komisch? Was macht erfolglose Autoren erfolglos? Wilhelm Genazino - berühmt für seine Beobachtungsgabe und seinen Wortwitz - über Theodor W. Adornos Humor, über Fotografien, über das Lachen und andere Begebenheiten. Wie immer gelingt es ihm, aus scheinbar Alltäglichem, Banalem das Verblüffende, Unerhörte, nie Gesehene herauszulesen.

Autorenportrait

Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebte in Frankfurt und ist dort im Dezember 2018 gestorben. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt: Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016), Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018), Der Traum des Beobachters (Aufzeichnungen 1972-2018, 2023).

Leseprobe

Die Unberechenbarkeit der Worte Am 6. November 1913 schrieb Kafka an Felice Bauer: 'Tagebuch führe ich überhaupt keines, ich wüßte nicht, warum ich es führen sollte, mir begegnet nichts, was mich im Innersten bewegt. Das gilt auch wenn ich weine wie gestern in einem Kinematographentheater in Verona. Das Genießen menschlicher Beziehungen ist mir gegeben, ihr Erleben nicht.' Wenn ich richtig gezählt habe, stecken in diesen fünf Druckzeilen sechs mehr oder weniger auffällige Schwindeleien. Die erste ('Tagebuch führe ich überhaupt keines') ist am leichtesten zu erkennen. Das uns heute vorliegende Tagebuch Kafkas gehört zu den eindrucksvollsten Dokumenten aller Zeiten. Zur Entlarvung der zweiten Schwindelei ('Ich wüßte nicht, warum ich es führen sollte') genügt es, wenn wir einen einzigen Satz aus diesem von Kafka geleugneten Tagebuch hier einflechten. Er lautet: 'Die Festigkeit aber, die das geringste Schreiben mir verursacht, ist zweifellos und wunderbar.' Die dritte Lüge ('Mir begegnet nichts, was mich im Innersten bewegt') ist für jeden Kenner von Kafkas Biographie so dreist, daß sich eine Richtigstellung von selbst erübrigt. Das Gegenteil war der Fall. Es ist Kafka viel zu- viel passiert, was ihn im Innersten bewegte, und er hat von diesem Übermaß oft gesprochen. Die vierte Lüge ('Das gilt auch wenn ich weine wie gestern in einem Kinematographentheater in Verona') ist nichts weiter als eine Steigerung der dritten Lüge; das Weinen ist ja gerade das Zeichen für ein Zuviel an Bewegtheit. Die fünfte Lüge ('Das Genießen menschlicher Beziehungen ist mir gegeben') und die sechste ('ihr Erleben nicht') sind die leicht durchschaubaren Flunkermanöver eines Melancholikers, der längst erkannt hat, daß ihm seine enorme masochistische Energie alles mögliche erlaubt haben mag, das 'Genießen menschlicher Beziehungen' aber mit Sicherheit nicht. Als Erklärung bietet sich an: Kafka hat im Wohlgefühl der Entlastung, die ihm das Schreiben gewährte, seine Lügenhaftigkeit nicht bemerkt. Das Lügen - oder sagen wir nachsichtig: die Tendenz zur Verdrehung von Tatsachen im Zustand gelungener Triebabfuhr - teilt Kafka mit vielen anderen Menschen, was gewiß auch erklärt, warum Kafkas Schwindeleien bisher kaum aufgefallen sind. Die Schwierigkeit des Schriftstellerberufs liegt darin, daß das Verhältnis des Autors zu seiner Arbeit aus mehreren Phantasie- und nur aus einer Realbeziehung besteht. Phantastisch ist schon ein äußerliches Moment. Der Schriftsteller sitzt ruhig an seinem Tisch und schreibt. Und hofft und glaubt, daß dieser nied-rige Gestaltungsaufwand schon ausreicht, seinen besonderen Lebenskampf zu bestehen. Natürlich ist das Ruhe-Bild am Schreibtisch ein Schein. In Wahrheit kämpft der Autor mit mehreren Mythen gleichzeitig. Erstens muß er sein Berufsbild und - darin eingebaut - seine persönliche Stellung innerhalb des Berufsstandes komplett phantasieren. Sein Beruf ist nicht geschützt. Jeder, der will, darf sich Schriftsteller nennen oder sich für einen solchen halten. Ich erinnere an Joseph Conrad, der schon mit fünfzehn überzeugt war, daß ein großer Schriftsteller aus ihm werden würde. Dreiundzwanzig Jahre lang mußte er darüber hinwegphantasieren, daß ihm seine Natur eine Begabung zum Schriftsteller vielleicht nur vorgetäuscht hatte, ehe er im Alter von 38 Jahren endlich seinen ersten Roman vorlegte und damit sicher sein durfte, daß er nicht vergeblich phantasiert hatte. Und ich erinnere an den letzten Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, der bald nach der Wende in einem Fernsehinterview gefragt wurde, was er denn jetzt tun werde; und Egon Krenz antwortete mit irritierender Selbstsicherheit, er werde ab sofort als Schriftsteller arbeiten. Die beiden Anekdoten liegen nur scheinbar weit auseinander. In Wahrheit sind sie eng aufeinander bezogen. Allein in der Offenheit der Selbstzuschreibung ist - in beiden Fällen - der phantastische Gehalt des Schriftstellerberufs erkennbar. Auch der als seri ... Leseprobe

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