Leseprobe
Kapitel 1 Ich frage mich, ob es in meinen gut vierzig Lebensjahren ein einziges Highlight gegeben hat, das mit dem Essen zu tun gehabt hätte. Ich meine keine feierlichen Abendessen in guter Gesellschaft; ich meine das Kauen, Einspeicheln und Verdauen von Nahrung. Obwohl ich andauernd esse, kann ich mich an nur wenige Mahlzeiten genauer erinnern, eher sind mir Lieblingsfilme, Freundschaften, Uniabschlussfeiern im Gedächtnis geblieben. Daraus folgt, dass mir Filme, menschliche Nähe und Bildung offenbar wichtiger sind als die Nahrungsaufnahme. Würde ich jedoch ehrlich die Zeit aufaddieren, die ich tagaus, tagein mit Menüplanung, Einkaufen, Vorbereitung und Kochen, Tischdecken und Aufräumen verbringe, dann verweist das Essen meine Leidenschaft für romantische Komödien allemal auf die Plätze; ebenso meine Zuneigung für andere Menschen, sogar jene, von denen ich behaupten würde, dass ich sie liebe. Ich habe insgesamt weniger über meinen Mann nachgedacht als über das Mittagessen. Rechnet man noch die Zeit hinzu, in der ich mir wegen meiner Schwäche für Zitronen-Baiser-Tarte Vorwürfe gemacht habe oder schwor, am nächsten Tag aufs Frühstück zu verzichten, so scheint es, als drehte sich mein Leben um nichts anderes als ums Essen. Und wenn also das Essen bei mir einen so peinlich zentralen Stellenwert einnimmt, warum kann ich mich dann im Detail an nur so wenige Mahlzeiten erinnern? Wie den meisten Menschen sind mir die Leibspeisen meiner Kindheit am stärksten im Gedächtnis geblieben, und wie den meisten Kindern schmeckten mir simple Dinge am besten: Toast, Backpulverplätzchen, Salzcracker. Mein Gaumen hat sich im Erwachsenenalter weiterentwickelt, nicht aber mein Charakter. Als kleines Mädchen war ich die Folie, vor der andere sich produziert haben, und so ist es geblieben. Es ändert zwar nichts an meinem Unbehagen, aber immerhin eine kleine Entschuldigung für vorwiegend organisatorisches Interesse an Ernährungsfragen kann ich vorbringen. Ich habe elf Jahre lang einen Cateringservice betrieben. Man könnte also erwarten, dass ich zumindest die Triumphe meiner Firma Breadbasket, Inc. in Erinnerung behalten hätte. Aber dem ist nicht so. Von experimentierfreudigen Akademikern einmal abgesehen, bevorzugt der durchschnittliche Bewohner Iowas konventionelle Kost, und alles, woran ich mich in Zusammenhang mit meiner Arbeit erinnern kann, ist eine endlose Folge von Karottenkuchen, Lasagne und Maisbrot mit Sauerrahm. Was mir in allen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben ist, sind die Missgeschicke: der indische Rosenwasserpudding aus Reismehl, der sich in eine klebrig-viskose Masse verwandelte, die als Tapetenkleister getaugt hätte. Der Rest - die Lachsröllchen an Irgendwas, das sautierte Soundso mit einer Prise Wasauchimmer, sie sind vergessen. Meine Theorie: Es liegt an der flüchtigen Natur der Nahrung. Sie ist mehr Konzept als Substanz, sie ist die Idee von Befriedigung und damit wesentlich eindrücklicher als die Befriedigung selbst. Die nachhaltigste Erfahrung bei der Nahrungsaufnahme ist das Dazwischen: Man erinnert sich an den letzten Bissen und freut sich auf den nächsten. Das eigentliche Essen scheint hingegen gar nicht stattzufinden. Diese Unfähigkeit zur Erlösung macht Tafelfreuden so verlockend und zugleich so gefährlich. Alles bloß triviale Überlegungen? Da bin ich mir nicht so sicher. Wir sind Tiere; mehr noch als die zur Reproduktion dringend notwendige Sexualität liegt das Bedürfnis nach Nahrung nahezu jedem menschlichen Bestreben zugrunde. Als unübersehbare Sieger im Kampf um die Ressourcen sind die Beleibteren unter uns zweifellos wandelnde biologische Erfolgsgeschichten. Aber wie uns jede überbevölkerte Herde Rotwild bestätigen kann: Die Natur bestraft den Erfolg. Unser Instinkt zu horten, das sorgfältige Vergraben von Eicheln für den langen Winter, es mag im Sinne Darwins noch so schlau sein, wird mein Land über kurz oder lang jedoch umbringen. Und darum frage ich mich, ob das Thema wirklich so trivial ist. Das Schic