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Soziologie der Geburt

Diskurse, Praktiken und Perspektiven

Erschienen am 04.10.2011, 1. Auflage 2011
35,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593395258
Sprache: Deutsch
Umfang: 243 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 21.3 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

InhaltsangabeInhalt Soziologie der Geburt: Diskurse, Praktiken und Perspektiven - Einführung7 PaulaIrene Villa, Stephan Moebius & Barbara Thiessen Gesellschaftskonstitution durch Geburt - Gesellschaftskonstruktion der Geburt: Zur Theorietechnik einer Soziologie der Geburt22 Joachim Fischer Körperhaftigkeit, Erfahrung und Ritual: Geburtsrituale im interkulturellen Vergleich39 Maya Nadig Magie und Technik: Moderne Geburt zwischen biografischem Event und kritischem Ereignis75 Lotte Rose & Ina Schmied-Knittel Patientinnenautonomie in der Geburtshilfe101 Dorothea Tegethoff Die Geburt im Kontext der Zeit kurz davor und danach - Eine repräsentative empirische Beschreibung der Situation in Deutschland auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) 129 Anita Kottwitz, C. Katharina Spieß & Gert G. Wagner Das andere Leben im "toten" Körper - Symbolische Grenzprobleme und Paradoxien von Leben und Tod am Beispiel "hirntoter" Schwangerer155 Werner Schneider "I helped to bring them into this world": Geburt, Leihmutterschaft und Reproduktionsmedizin in Frozen Angels (2005) 183 Anja Michaelsen Die Geburt des ersten Kindes: Vom Willen der DDRBevölkerungspolitik zum >Bedürfnis< der >jungen Frauen<207 Maximilian Schochow Akademische Geburtshilfe und ihre Folgen am Beispiel des Marburger Accouchierinstituts227 Marita MetzBecker Autorinnen und Autoren239

Autorenportrait

Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München. Stephan Moebius ist Professor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Graz. Barbara Thiessen ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Beratung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Bielefeld.

Leseprobe

Über Geburt soziologisch - durchaus in einem weiten Sinne - zu reflektieren ist ungewöhnlich. Es existieren zwar eine Reihe an anthropologischen, ethnologischen und kulturgeschichtlichen Texten und Studien zu Geburt, zum Beispiel über ethnomedizinische Perspektiven des Gebärens oder über Frau und Geburt im Kulturvergleich (vgl. u. a. Davis-Floyd/Sargent 1997; Gottschalk-Batschkus/Schievenhövel/Sich 1995; Schlumbohm/ Duden/Gelis 1998). Wirft man aber einen Blick in die Geschichte der Soziologie, so ist erstaunlicherweise festzustellen, dass es allgemein an soziologischer Fachliteratur und soziologischer Forschung zum Thema Geburt mangelt. Der blinde Fleck, den die Geburt in der Soziologie darstellt ist umso erstaunlicher, als doch gerade die Geburt sowohl für die Gesellschaft als auch für das Individuum schlicht existenziell ist. Doch zugleich, so lässt sich etwa aus der Geschichte der Thematisierung von Geschlecht, Körper oder Sexualität in der Soziologie begründet vermuten, dürfte genau diese existenzielle Dimension der Grund dafür sein, dass die Soziologie sich schwer mit dem Phänomen Geburt tut. Denn der Logik der Moderne folgend, gelten gebären und geboren werden auch sozialwissenschaftlich als natürliche Prozesse - als asozial und ahistorisch. Dieses Buch will dazu beitragen, das Gegenteil zu zeigen: Dass nämlich all das, was mit dem wörtlichen zur Welt kommen von Menschen zu tun hat, eine genuin gesellschaftliche Dimension enthält. Auch Geburt ist durchtränkt von sozialer Ungleichheit (von den so genannten Komplikationsraten über die Risiken für Mutter und Kind und dem Grad der medizinischen Intervention bis hin zu den bevorzugten Modi der Geburt je nach Milieu), konstituiert durch lebensweltliches und Expertenwissen, wird in raumzeitlich spezifischer Weise tradiert und findet in unterschiedlichen institutionellen Rahmungen statt. Man denke hier nur an die zunehmende Präsenz von Männern in den Kreißsälen der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten - und daran, dass dies in bestimmten Milieus nunmehr zu einem Imperativ geworden ist. Man denke auch an die Klassifizierungen verschiedener Geburten als natürliche, gelungene, sanfte, traumatische, schnelle und so weiter. An diesen zeigen sich gesellschaftliche Wissensbestände beziehungsweise Deutungsmuster, die sich im Geflecht von Medizin, kulturellen Traditionen, sozial- und gesundheitspolitischen Interventionen, leiblichen Erfahrungen und mehr bilden und beständig verändern. Man denke schließlich auch an den Einfluss sozialer Bewegungen, hier vor allem der Frauen- und genauer der Frauengesundheitsbewegungen, die die Erfahrungsmöglichkeiten von Geburt für Frauen (und Männer) wesentlich beeinflusst haben. Es gibt also zahlreiche empirische Indizien dafür, dass auch Geburt ein soziales Phänomen ist. Wir werden nachfolgend einige soziologische Perspektiven skizzieren, die uns geeignet scheinen, sich diesem zu nähern. Ganz sicher sind diese nicht erschöpfend in ihrer Vielfalt, noch sind sie hinreichend diskutiert. Vielmehr sind sie als eine erste Annäherung an ein komplexes Thema zu verstehen, dem sich die Beiträge im Sammelband auf sehr unterschiedliche Weise widmen. Geburt und ihre Rituale Eine der wenigen soziologischen Ausnahmen von der Blindheit gegenüber der Geburt als sozialem Phänomen stellt der Schüler und Neffe Émile Durkheims, Marcel Mauss, dar, der sich als einer der ersten Soziologen für das Thema Geburt interessiert hat. In seinem bahnbrechenden Aufsatz "Techniken des Körpers" (Mauss 1999 [1934]), zugleich einer der Gründungstexte der Körper- und Techniksoziologie, kommt er - wenn auch nur kurz - auf die je nach sozialem und kulturellen Kontext unterschiedlichen Techniken der Geburt zu sprechen, also beispielsweise unterschiedliche Gebärhaltungen oder Methoden der Geburtshilfe. Von Bedeutung ist hier Mauss' Annahme, dass Geburten nicht einfach biologische Prozesse sind. Sondern sie sind, wie Mauss es mit seinem Konzept des "l'homme totale", also des totalen Menschen, zu fassen versuchte (vgl. Moebius 2006), zugleich und untrennbar miteinander verknüpfte biologische, psychologische, historische und eben wesentlich auch soziale Prozesse, und zwar Prozesse, die in seinen Augen in Form von rituellen körperlichen Praktiken und Erzählungen gestaltet, gedeutet und sozialisiert werden. Mauss konnte hierbei an die Studien "Über die kollektive Repräsentation des Todes" seines Kollegen Robert Hertz anknüpfen, der noch vor Arnold van Genneps "rites de passage" die dreiphasige Struktur von Übergangsritualen erforscht hat (vgl. Hertz 2007). Es sind nach der Soziologie der Durkheim-Schüler Übergangsrituale, die nicht nur den Tod, sondern eben auch die Geburt rahmen, deuten und damit in einen symbolischen Zusammenhang bringen. Die Menschen formen und beeinflussen das physiologische Geschehen der Geburt durch ritualisierte Handlungen, "sei es, um den körperlichen Prozess zu unterstützen, Ängste zu mindern, Gefahren zu bannen. In der Anordnung, Symbolik und Qualität dieser Rituale", so die Ethnopsychoanalytikerin Maya Nadig in ihrem Beitrag des vorliegenden Bandes, "werden sowohl bio-psycho-soziale Bedeutungen wie geschlechtsspezifische Zuschreibungen bestätigt oder neu konstruiert" (Nadig). Dabei gibt es eine Fülle an je nach Kultur unterschiedlichen Geburtssystemen, unterschiedlich vor allem, was Inhalt und Symbolik betrifft. Aber auch eine Fülle an Unterschieden, was die Konzeptionen von Körper, Frau, Mutter und die Geschlechterbeziehungen angeht. Ähnlich hingegen sind sich die besagten Geburtsrituale in ihrer Struktur als Übergangsrituale. Wie Robert Hertz, und nach ihm Arnold van Gennep und einige Jahre später der Ethnologe Victor Turner hervorgehoben haben, werden die unterschiedlich erlebbaren und interpretierten körperlichen Prozesse und Veränderungen im Lebenslauf wie Geburt, Pubertät, Menopause oder Tod in jeder Kultur durch Rituale strukturiert (vgl. zum Folgenden Nadig in diesem Band). Eine zentrale Rolle spielen dabei Bezugspersonen und VermittlerInnen wie HeilerInnen, SchamanInnen oder Hebammen, die durch die Übergangsrituale führen und sowohl die körperlichen, seelischen wie sozialen Zustandsänderungen begleiten. Übergangsrituale bestehen dabei nach Hertz und van Gennep aus drei Abschnitten: 1. aus Abtrennungsritualen, die einen aus dem früheren Leben und Zugehörigkeitsgruppen wegführen. Beispielsweise die Wahl eines bestimmten, vom normalen Leben abgesonderter Ort, Reinigungsriten oder zum Beispiel in der Schwangerschaft Tabus, die Ernährung, Sexualität oder Lebensführung betreffen. Darauf folgen 2. Schwellen- oder Umwandlungsrituale, die die so genannte liminale Phase, also etwa die Geburt, rahmen. Wie insbesondere Victor Turner (2005) gezeigt hat, ist diese liminale Phase von einer Anti-Struktur und Ambiguität geprägt, das heißt, die alten Rollen gelten nicht mehr und neue sind noch nicht gefunden, die Betroffenen sind Grenzgänger zwischen den Welten, sie befinden sich in einer unbestimmten Situation, die als sakral, das heißt als abgetrennt von der profanen Welt, als anziehend, faszinierend, aber auch als gefährlich erachtet wird. Vor allem kommt es nach Turner zu Erlebnissen der communitas, zu einem Aufgehen in Gemeinschaft, beispielswiese in der gemeinsamen Glückserfahrung beim Anblick des Neugeborenen oder in der inneren Verbundenheit aller Beteiligten am Geschehen, es kommt also zu Erfahrungen des Ergriffen-Seins. Auf die Schwellenrituale, die diese Erfahrungen rahmen, folgen schließlich 3. Angliederungsrituale, die in das Neue integrieren und die gesellschaftliche und symbolische Ordnung wiederherstellen - etwa Waschungsrituale, Nahrungstabus oder die Wochenbettzeit. Bezogen auf das Neugeborene etwa Empfangs- oder Taufrituale. Zu den Ritualen gehören auch Erzählungen, Mythen und Bilder, die die Bedeutung haben, die Übergänge in einem größeren kollektiven und zeitlichen Zusammenhang zu verorten, ihnen eine Sprache für die unaussprechlichen Empfindungen zu geben u...

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