Beschreibung
Die erstaunlichen Fähigkeiten unseres GehirnsUnser Gehirn ist nicht - wie lange angenommen - eine unveränderliche Hardware. Es kann sich vielmehr auf verblüffende Weise umgestalten und sogar selbst reparieren - und das bis ins hohe Alter. Diese Erkenntnis ist die wohl sensationellste Entdeckung der Neurowissenschaften."Dr. Doidge, ein hervorragender Psychiater und Forscher, erkundet die Neuroplastizität in Begegnungen mit Pionieren der Forschung und mit Patienten, die von den neuen Möglichkeiten der Rehabilitation profitiert haben. ... Das Buch ist ein absolut außergewöhnliches und hoffnungsvolles Zeugnis der Möglichkeiten des menschlichen Gehirns."Oliver Sacks"...ein faszinierender Abriss der jüngsten Revolution in den Neurowissenschaften!"The New York Times"Das Gehirn ist kein fertig verdrahteter Denkapparat, der im Laufe des Lebens immer weiter verschleißt. Es kann sich umorganisieren, umformen und manchmal kann es sogar wachsen. Der Psychologe Norman Doidge erklärt neueste Ergebnisse der Hirnforschung: Durch einfühlsam geschilderte Beispiele macht er sie für jedermann verständlich und nachvollziehbar."Deutschlandfunk
Autorenportrait
Norman Doidge, M.D., forscht als Psychiater und Psychoanalytiker am Columbia University Center for Psychoanalytic Training and Research in New York und an der University of Toronto. Seine Veröffentlichungen als Autor und Essayist sind mehrfach ausgezeichnet worden."Neustart im Kopf" wurde von der Dana Brain Foundation als "bestes Sachbuch aller Zeiten über das Gehirn" prämiert. 2015 erschien bei Campus sein Buch "Wie das Gehirn heilt".
Leseprobe
Vorwort zur Neuauflage Das Vorwort zur Neuauflage eines Buches gibt dem Autor die Gelegenheit auf Entwicklungen seit der Erstveröffentlichung einzugehen: Wurde das Buch entsprechend den Absichten des Autors von der Leserschaft gut angenommen, stehen Selbstkorrekturen an, und wie sind die darin ausgedrückten Gedanken weiterzuentwickeln? Nun, da seit Erscheinen der Originalausgabe von Neustart im Kopf sieben Jahre vergangen sind, ist der zentrale Begriff des Buches "Neuroplastizität" vielerorts geläufig geworden. Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, seine Struktur und Funktion in Reaktion auf geistige Erfahrungen zu verändern. Mir ging es zunächst darum, neue Wege zu finden, um Menschen mit neurologischen und psychiatrischen Leiden zu helfen. Zu diesem Zweck sammelte ich Beispiele klinischer Neuroplastizität: Heilungen oder ungewöhnliche Besserungen in Situationen, die hoffnungslos erschienen. Vom Standpunkt der Wissenschaftsgeschichte aus betrachtet, handelte es sich bei diesen Beispielen um Anomalien, denn sie schienen dem konventionellen Paradigma zu widersprechen, wonach die "Schaltkreise" des Gehirns in der Kindheit gebildet und festgelegt würden. Nicht lange aber, nachdem ich mit dem Sammeln solcher Anomalien begann, erkannte ich, dass das allgemeine Verständnis des Gehirns im Kern unrichtig war. Das Gehirn ist nicht nur in der Lage, sich neu zu "verdrahten", dies ist sogar seine normale Funktionsweise. So erlebte ich, was Wissenschaftshistoriker als "Krise" eines Paradigmas bezeichnen. Schließlich kam ich an einen Punkt, an dem ich genügend Beispiele grundlegender neuroplastischer Verwandlungen angehäuft hatte, um daraus zu schließen, dass im Lichte dieser Entdeckungen mit dem alten Paradigma ganz zu brechen sei. Ich kam zum Schluss, dass dieses neue Paradigma die wichtigste Veränderung unseres Verständnisses des Gehirns seit gut vierhundert Jahren bedeutete, führte es doch zur Preisgabe des seit Descartes vorherrschenden Bildes vom Gehirn als Maschine. Freilich verspürte auch die Mehrzahl derjenigen Wissenschaftler und Ärzte, die ich als "Neuroplastiker" bezeichne, diese Krise. Ihre hochkomplexe, ins Detail gehende Arbeit war derart umstritten, und fand sozusagen außerhalb der regulären Arbeitszeit statt, dass sie sich anfangs oft scheuten, zur Erklärung ihrer Ergebnisse das Wort "Neuroplastizität" zu verwenden, weil es weithin als Hirngespinst galt. Infolgedessen fand ihre Arbeit am Thema oft in relativer Abgeschiedenheit statt, im jeweils eigenen geistigen Silo, ohne die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Zu meinem Glück hatte ich die Möglichkeit, gleichsam über diesen voneinander getrennten neuroplastischen Silos zu schweben, zwischen ihnen hin- und herzuspringen, Verbindungen zwischen den dort entwickelten Projekten herzustellen und somit auch weitere Folgerungen daraus zu ziehen. Darunter waren auch Erkenntnisse, zu welchen den Neuroplastikern selbst, die alle Hände voll mit ihren neuen Techniken zu tun hatten, schlicht die Zeit fehlte. Das vorliegende Buch zeigt diese Erkenntnisse, die für die medizinische Praxis ebenso wie für unser Verständnis von Liebe, Beziehungen, Sexualität, Bildung und, wie ich im Anhang zeige, der Kultur von großer Bedeutung ist. Die Neurowissenschaft hat viele Einzelstudien hervorgebracht sowie eine Flut ernst zu nehmender wissenschaftlicher Erkenntnisse. Was allerdings oftmals fehlt, sind Denker, die in der Lage sind, sich diese Erkenntnis anzueignen, sie zu ordnen und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Zu diesem Unterfangen wollte ich mit dem vorliegenden Buch zumindest einen Anfang machen, mit Blick auf die Veränderbarkeit des Gehirns. Manche Leser erwarten geradezu, dass ein wissenschaftliches Buch nahezu undurchdringbar sein müsse, und auf jeden Fall mit mathematischen Formeln durchsetzt. Woraus es auf jeden Fall nicht bestehen sollte, sind Geschichten. Tatsächlich kamen einige Leser (fast immer handelte es sich bei Ihnen um Journalisten) zu dem Fehlschluss, dass dieses Buch, handelt es doch einerseits von einem naturwissenschaftlichen Thema und ist es andererseits für verständlich befunden worden, wohl der Kategorie "populäre Naturwissenschaft" und damit dem Journalismus zuzuordnen sei, eine Vereinfachung zur Unterhaltung des Laienpublikums. Tatsächlich aber lag es in meiner Absicht, Wissenschaftler und Ärzte ebenso wie eine breitere Leserschaft anzusprechen. Wenn dieses Buch für sich Verständlichkeit beanspruchen darf, dann liegt das an der Eigenart des Genres, dem es in Wahrheit angehört. Wenn eine Wissenschaft sich einmal etabliert hat, dann schreiben die darin arbeitenden Wissenschaftler für gewöhnlich keine Bücher, sondern Artikel. Diese Fachartikel schreiben sie an- und füreinander, oft in Begriffen und in einem Duktus, die nur Eingeweihten verständlich sind. Sie tun dies, weil sich dadurch erübrigt, im Rahmen eines fortgeschrittenen Paradigmas jeden Begriff, jede Gleichung und jedes Verfahren aufs Neue erklären zu müssen. Das bleibt den Lehrbüchern vorbehalten. Doch wie der große Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn feststellte, ist der kurze Zeitraum zwischen dem Zusammenbruch eines alten Paradigmas und der Festigung eines neuen oftmals der richtige für ein Buch - und obendrein ein verständliches. Da das alte Paradigma nicht mehr gilt, ist auch der Autor dieses Buches nicht mehr an dessen esoterischen Sprachgebrauch oder Jargon gebunden. Es ist vielmehr seine Aufgabe, den umfassenden Problemzusammenhang und die Ansätze zu einem neuen Paradigma in allgemein verständlicher Sprache für alle potenziellen Interessenten zu schildern. Anders als der in einem hergebrachten Paradigma arbeitenden Wissenschaftler obliegt es ihm, seine neuen Begriffe zu definieren. Selbst wenn solche Bücher es zu einer gewissen Popularität bringen, so sind sie doch nicht als "populäre Naturwissenschaft" einzustufen, worunter ich die vereinfachte Beschreibung einer eingeführten Disziplin verstehe. Dass ich beschloss, dieses Buch in Form von Geschichten zu schreiben, sollte dem Leser ermöglichen, das zu sehen, was ich auch sah. Meine ganze Erfahrung, im Leben wie bei der Erforschung des Gehirns, führt mich zu dem Schluss, dass die meisten Menschen durch Geschichten, in denen sie zu Zeugen des Geschehens werden, viel besser lernen als durch abstrahierende Darstellungen. Ich wollte meinen Lesern zutrauen, mit einem Minimum an Hilfestellung die einzelnen Punkte zu verknüpfen, die Verbindungslinien zwischen den Geschichten zu ziehen und zu erkennen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Damit sollte begreiflich gemacht werden, dass das Buch ein neues Paradigma zum Verständnis des Gehirns schildert. Ist aus diesem Paradigma aber nun eine neue Disziplin "Neuroplastizität" hervorgegangen, mit ihren eigenen Fachzeitschriften, Fakultäten und Studiengängen? Manchmal, in Augenblicken der Schwäche, wünsche ich mir das, und im Grunde hätte ich nichts dagegen. Insgesamt aber glaube ich, dass die Idee eines plastischen Gehirns zu umfassend ist, um als Unterkategorie behandelt zu werden. Das hängt mit meinem Verständnis der Neurowissenschaft zusammen, und mit der Rolle, die Neuroplastizität darin zu spielen hat.In der Öffentlichkeit findet man heute oftmals die Vorstellung, es handele sich bei der Neurowissenschaft um einen eigenständigen Forschungsbereich, dessen Institute fertige Neurowissenschaftler hervorbringen (und davon gibt es immerhin einige, seitdem der Begriff "sexy" geworden ist). Tatsächlich aber ist "die" Neurowissenschaft weniger ein eigenständiger Forschungsbereich als ein Ansatz zur Lösung von Fragen, die von einer Vielzahl unterschiedlicher Bereiche aufgeworfen werden. Die bedeutendsten Neurowissenschaftler kommen aus verschiedenen Disziplinen. Eric Kandel, der als erster einen Nobelpreis für neuroplastische Forschung erhielt, war ursprünglich Psychiater, der sich später Kenntnisse in Neurobiologie und Molekularbiologie erwarb. Gerald Edelman bekam einen Nobelpreis für seine Verdienste um die Erforschung der Antikörper, gilt aber heute als angesehener Neurowissenschaftler. So auch Francis Crick, der Biologe, der zuerst als Mitentdecker der DNA berühmt wurde. Unter den Neurowissenschaftlern finden sich Psychologen, Neurophysiologen, Neurologen, Psychopharmakologen, Spezialisten für Rehabilitationsmedizin oder "Neuroimaging", Neuropsychologen, Erziehungswissenschaftler, Genetiker und selbst eine Handvoll Psychoanalytiker. Warum also bezeichnen sie sich nun auch noch als Neurowissenschaftler? Der Grund hierfür ist, wie ich meine, Mitte des 20. Jahrhunderts zu suchen, zu einer Zeit, als diese verschiedenen Disziplinen ihre eigenen Sprachen entwickelt und dabei die Fähigkeit verloren hatten, miteinander zu kommunizieren. So kam es zur Krise, denn alle beschäftigten sich auf unterschiedliche Weise mit Geist und Gehirn, und alle hatten etwas zum großen Ganzen beizutragen. Bald bildeten sich zwei, einander oftmals bekriegende, Lager heraus: Jene, die sich mit dem "Geist" beschäftigten (viele Psychologen, Psychiater, einige Philosophen usw.) standen jenen entgegen, denen es um das Gehirn ging (zum Beispiel Neurophysiologen, Psychopharmakologen usw.). Diese Balkanisierung der Wissenschaften von Geist und Gehirn stand dem gemeinsamen Fortschritt im Weg. Lässt man außer Acht, dass die Funktion des Gehirns in der Erzeugung geistiger Aktivität besteht, kommt man bei seiner Erforschung nicht weiter, als wenn man den Verdauungstrakt ohne Berücksichtigung der Verdauung studiert. Das Schisma schien eine Trennung von Geist und Gehirn festzuschreiben, die vor den Erkenntnissen der Neuroplastizität nicht bestehen kann. Diese Krise, und die heraufdämmernde Erkenntnis, dass wir viel voneinander zu lernen hatten, führte zum Aufbau eines großen Daches, unter dem alle diese wunderbaren Disziplinen miteinander ins Gespräch kommen konnten. Dieses Dach heißt Neurowissenschaft. Ihr Wert liegt darin, dass sie ein Projekt darstellt, das weiter gefasst ist als irgendeine ihrer Teildisziplinen, und dass Neurowissenschaft versucht, unsere Erkenntnisse über Geist und Gehirn miteinander zu verbinden. Darin liegt ihre Faszination für eine breite Öffentlichkeit. Die Neurowissenschaft ist somit zu verstehen als eine längst überfällige Zusammenarbeit zwischen Einzeldisziplinen und zwischen geist- und gehirnzentrierten Ansätzen. Dem entspricht, dass Neuroplastizität sich nicht einfach mit "Hirnwachstum" oder "Hirnveränderung" beschäftigt, wie sie selbst manche im Labor arbeitenden Forscher verengend definieren würden. Neuroplastizität ist die Veränderung des Gehirns infolge geistiger Aktivität. Zugegeben, im Labor können wir das Gehirn verändern, mit chemischen oder anderen Mitteln. Doch handelt es sich dabei um künstliche Eingriffe. In der Natur stellt sich Neuroplastizität als eine grundlegende Eigenschaft dar, die in Verbindung mit geistiger Aktivität steht. Neuroplastizität ist demnach ein Begriff, der das Unternehmen Neurowissenschaft zusammenhält, indem er zwei Leitgedanken vertritt: Das Gehirn ist Hervorbringer geistiger Zustände, und diese bringen wiederum Veränderungen in Struktur und Funktion des Gehirns hervor. Neuroplastizität ist für alle neurowissenschaftlichen Forschungsgebiete von Belang, kann zu allen etwas beitragen und von allen etwas lernen. Deshalb glaube ich, dass eine Unterdisziplin, die allein der Neuroplastizität gewidmet wäre, diesen Vorteil verspielen würde. Man fragt mich oft, wie die "neuroplastische Revolution" vorankomme und ob ihre Erkenntnisse klinische Bestätigung finden. Darauf kann ich keine eindeutige Antwort geben. Manche Forschungsbereiche, wie diejenigen, die sich mit Lernbehinderungen beschäftigen, machen große Fortschritte. Auch die Disziplinen, die sich mit der Rehabilitation beispielsweise nach Schlaganfällen beschäftigen, Sprachspezialisten, Beschäftigungstherapeuten, Aspekte von Psychologie, Psychiatrie und Kinderpsychiatrie, Sporttrainer, Hypnotiseur, Spezialisten für Neurofeedback und andere haben sich Erkenntnisse der Neuroplastizität zunutze machen können. Sie alle haben bereits Erfahrungen mit mentalem Training gemacht und konnten ihren Praktiken einen Schub verpassen, als sie lernten, dass dieses Training sich auf die Strukturen des Gehirns auswirkt. Aber geistige Revolutionen und Entdeckungen benötigen Jahrzehnte, nicht Jahre, zu ihrer Entfaltung. Unser Verständnis des Elektromagnetismus begann vor etwa 150 Jahren, doch haben wir noch längst nicht alle möglichen Anwendungen des Prinzips erforscht. Der Sinn dieses Buches ist, zu zeigen, dass Neuroplastizität Wirklichkeit besitzt, und dass sie in vielen klinischen Bereichen anwendbar ist. Aber die neuroplastische Revolution steht noch am Anfang. Norman Doidge, Januar 2014Vorwort Seit wenigen Jahren verbreitet sich eine revolutionäre Erkenntnis, die lange für unmöglich gehalten wurde: Das menschliche Gehirn kann sich verändern. Dieses Buch stellt diese Entdeckung vor und erzählt die Geschichten von Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten, die gemeinsam ganz erstaunliche Veränderungen des Gehirns bewirkt und erlebt haben. Ganz ohne Operationen und Medikamente nutzten sie dieses bislang unbekannte Veränderungspotenzial des Gehirns. Einige der Patienten litten unter angeblich nicht behandelbaren neurologischen Erkrankungen. Andere wollten lediglich die Funktionsfähigkeit ihres Gehirns verbessern oder sie im Alter erhalten. Vierhundert Jahre lang galt allein der Gedanke an Modifizierungen des Gehirns als völlig unvorstellbar, denn die gängige Lehre der Medizin und der Neurowissenschaften behauptete, die Anatomie des Gehirns sei fest vorgegeben. Nach Abschluss des Entwicklungsprozesses in der Kindheit sei nur noch eine einzige Veränderung möglich: der schleichende Verfall. Wenn Gehirnzellen sich nicht richtig entwickelten, wenn sie verletzt wurden oder abstarben, sollten sie demnach nicht ersetzt werden können. Das Gehirn könne seine Struktur nicht abwandeln oder neue Funktionen entwickeln, wenn ein Teil beschädigt sei. Diese Theorie erklärte, dass Menschen, die mit einem eingeschränkt funktionsfähigen Gehirn zur Welt kamen oder später Gehirnverletzungen erlitten, bis ans Ende ihrer Tage mit diesen Einschränkungen zu leben hatten. Die Frage, ob sich die Funktionsfähigkeit eines gesunden Gehirns durch bestimmte Aktivitäten oder geistige Übungen erhalten oder gar verbessern ließe, galt unter Wissenschaftlern als pure Zeitverschwendung. Mit dieser Überzeugung, dass jede Behandlung von Gehirnschäden sinnlos sei, hatte eine Art neurologischer Nihilismus die gesamte Kultur erfasst. Er schränkte sogar unser Menschenbild ein: Da sich das Gehirn nicht verändern konnte, musste auch die menschliche Natur, die aus dem Gehirn hervorgeht, ein für alle Mal festgeschrieben sein. Dieser Glaube an das unveränderbare Gehirn hatte vor allem drei Ursachen: Erstens erholten sich Patienten in den seltensten Fällen vollständig von ihren Gehirnverletzungen. Zweitens entzog sich die Aktivität des lebenden Gehirns lange Zeit der Beobachtung durch die Wissenschaft. Und drittens verglich man das Gehirn seit den Anfängen der modernen Naturwissenschaften mit einer Art genialer Maschine - und Maschinen leisten zwar Außergewöhnliches, doch sie können sich weder verändern noch wachsen. Durch meine praktische Arbeit als Psychiater und Psychoanalytiker interessierte ich mich immer mehr für die Frage, ob sich das Gehirn nicht vielleicht doch verändern könnte. Wenn Patienten nicht die erwünschten psychischen Fortschritte machten, erklärte die Schulmedizin für gewöhnlich, die Probleme seien fest in den "Schaltkreisen" des unveränderbaren Gehirns "verkabelt". Die Vorstellung eines Schaltkreises ist eine jener Metaphern, die das Gehirn mit einer Maschine, genauer gesagt mit einem Computer vergleichen, dessen Prozessoren nur ganz spezifische und fest vorgegebene Funktionen übernehmen. Als ich erfuhr, dass das Gehirn möglicherweise doch nicht fest verschaltet sein könnte, musste ich der Sache auf den Grund gehen und die Beweise selbst in Augenschein nehmen. Diese Forschung führte mich weit über meine Praxis hinaus. Ich machte mich auf die Reise und lernte eine Reihe brillanter Wissenschaftler kennen, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre einige überraschende Entdeckungen gemacht hatten. Sie hatten gezeigt, dass das Gehirn mit jeder seiner Tätigkeiten seine Struktur veränderte und dass es seine Schaltkreise ständig optimierte, um anstehende Aufgaben besser lösen zu können. Wenn einige "Teile" ausfielen, sprangen oft andere ein. Mit der verbreiteten Vorstellung des Gehirns als einer Art Maschine, deren Einzelteile klar definierte Aufgaben übernahmen, ließen sich diese Beobachtungen nicht erklären. Diese Wissenschaftler begannen daher, von einer grundlegenden Veränderungsfähigkeit des Gehirns zu sprechen, eine Eigenschaft, die sie "Neuroplastizität" nannten. "Neuro" steht für "Neuron", die Nervenzelle in unserem Gehirn und unserem Nervensystem, und "Plastizität" bedeutet Veränderbarkeit, Formbarkeit, Wandelbarkeit. Anfangs scheuten sich Wissenschaftler, den Begriff "Neuroplastizität" in ihren Publikationen zu verwenden, und wurden von ihren Kollegen belächelt, weil sie eine derart fantastische Theorie vertraten. Doch sie hielten hartnäckig an ihren Erkenntnissen fest, und ganz allmählich gelang es ihnen, die Doktrin von der Gehirnmaschine zu widerlegen. Sie konnten zeigen, dass Kinder nicht auf die geistigen Eigenschaften festgelegt sind, die sie bei ihrer Geburt mitbekommen, dass sich das Gehirn nach dem Ausfall eines Bereichs umstrukturieren und die fehlenden Funktionen an anderer Stelle neu entwickeln kann, dass abgestorbene Gehirnzellen unter bestimmten Umständen ersetzt werden können und dass viele der "Schaltkreise" und selbst grundlegende Reflexe keineswegs "fest verdrahtet" sind. Einem dieser Wissenschaftler gelang sogar der Beweis, dass wir durch unsere Lernprozesse und Handlungen Gene ein- und ausschalten und damit die Anatomie unseres Gehirns und unser Verhalten formen können. Dies ist zweifelsohne eine der außergewöhnlichsten Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf meinen Reisen habe ich einen Naturwissenschaftler kennen gelernt, der geburtsblinden Menschen das Sehen ermöglicht, und einen anderen, der Taube hören lässt. Ich habe mit Menschen gesprochen, die Jahrzehnte zuvor einen Schlaganfall erlitten hatten und als unheilbar galten und die mithilfe neuroplastischer Methoden wieder vollständig genesen waren. Ich bin Menschen begegnet, die ihre Lernbehinderungen überwunden und ihren Intelligenzquotienten verbessert haben. Ich habe gesehen, wie Achtzigjährige ihr Gedächtnis mit geeigneten Übungen so trainieren können, dass es wieder so leistungsfähig ist wie im Alter von 55 Jahren. Ich habe beobachtet, wie Menschen ihr Gehirn allein mithilfe ihrer Gedanken neu strukturierten, angeblich unheilbare Zwangsvorstellungen ablegten und Traumata überwanden. Und ich habe mit Nobelpreisträgern gesprochen, die über ein neues Modell des Gehirns debattieren, das die neuen Erkenntnisse über dessen Wandelbarkeit mit einbezieht. Wie alle Revolutionen wird auch diese weitreichende Auswirkungen haben, und ich hoffe, dass dieses Buch einige davon aufzeigen kann. Die neuroplastische Revolution zeigt, wie sich unser Gehirn durch Liebe, Sex, Trauer, Beziehungen, Sucht, Kultur, Technologie und Psychotherapie (um nur einige zu nennen) verändert. Auch die Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften, die sich mit der menschlichen Natur beschäftigen, sind betroffen, genau wie alles, was mit Lernen zu tun hat. In jede dieser Disziplinen muss die Erkenntnis Eingang finden, dass sich die Struktur des Gehirns von einem Menschen zum anderen unterscheidet und dass sie sich im Lauf eines Lebens verändert. Offenbar hat sich also das menschliche Gehirn lange Zeit selbst unterschätzt. Trotzdem hat die Neuroplastizität auch ihre Schattenseiten: Sie macht unser Gehirn nicht nur flexibler, sondern auch verwundbarer gegenüber äußeren Einflüssen. Die Neuroplastizität kann sowohl flexible als auch starre Verhaltensweisen hervorbringen, weshalb man auch von einem "plastischen Paradoxon" sprechen kann. Ironischer-weise sind einige unserer hartnäckigsten Angewohnheiten und Störungen Produkte eben dieser Plastizität. Wenn eine bestimmte neuroplastische Modifikation im Gehirn stattgefunden hat, dann kann diese möglicherweise weitere Veränderungen verhindern. Nur wenn wir die positiven und negativen Auswirkungen der Neuroplastizität verstehen, können wir das Ausmaß der menschlichen Möglichkeiten wirklich erkennen. Da ein neues Wort nützlich sein kann, um neue Sachverhalte zu beschreiben, nenne ich die Naturwissenschaftler, die sich mit den Veränderungen des Gehirns befassen "Neuro-plastologen". Dieses Buch ist die Geschichte meiner Begegnung mit ihnen und mit den Patienten, deren Verwandlung sie bewirkt haben.
Inhalt
INHALTVorwort zur Neuauflage 7Vorwort 131. Eine Frau fällt ins Bodenlose 172. Die Frau, die sich ein besseres Gehirn baute 423. Die Neuerfindung des Gehirns 594. Lieben und Vorlieben 1045. Rettung aus der Finsternis 1406. Das entfesselte Gehirn 1697. Die Welt des Schmerzes 1818. Die Kraft der Vorstellung 1999. Wie wir Gespenster in Vorfahren verwandeln 21610. Die ewige Jugend des Gehirns 24411. Mehr als die Summe ihrer Teile 256Anhang 1: Gehirn und Kultur 281Anhang 2: Neuroplastizität und Fortschritt 305Dank 310Anmerkungen 313Personenregister 369Sachregister 373
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