Beschreibung
Disability HistoryHerausgegeben von Gabriele Lingelbach, Elsbeth Bösl und Maren MöhringWelche Ereignisse der deutschen Geschichte nach 1945 können als Momente des Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit dem Phänomen »Behinderung« betrachtet werden? War das Kriegsende 1945 tatsächlich eine Zäsur? Oder sollten andere Geschehnisse, etwa der »Contergan-Skandal« in den 1960er Jahren, als Wendepunkte angesehen werden? Im interdisziplinären Dialog fragen die Autorinnen und Autoren danach, welche Phasen der Kontinuitäten und der Brüche sich für die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in Deutschland identifizieren lassen. So entsteht erstmals ein Überblick über die Geschichte von Menschen mit Behinderungen in beiden deutschen Staaten seit 1945.
Autorenportrait
Gabriele Lingelbach ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Kiel.Anne Waldschmidt ist Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Universität Köln.
Leseprobe
Einleitung: Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche in der deutschen Disability History nach 1945
Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt
Disability History, die Erforschung der Geschichte von Behinderung, erfährt in der Bundesrepublik seit einigen Jahren eine immer größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Wenn auch später als im angel-sächsischen Sprachraum beginnt sie, sich allmählich auch in Deutschland als Forschungsfeld im Rahmen der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Geprägt durch einen intensiven Zusammenhang mit den hierzulande schon seit Längerem existierenden, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Disability Studies wie auch durch einen transnationalen Austausch mit Historikerinnen und Historikern anderer Länder, sind in den letzten Jahren in Deutschland themenbezogene Überblickspublikationen, Netzwerke und Institutionen entstanden. Erstmalig trat hierzulande die Disability History auf dem 47. Deutschen Historikertag 2008 in Dresden in Erscheinung. Die Ergebnisse der von Elsbeth Bösl, Anne Klein und Anne Waldschmidt organisierten Sektion "Dis/ability in History - Behinderung in der Geschichte: Soziale Ungleichheit revisited" wurden 2010 in einem Grundlagen vermittelnden ersten Sammelband veröffentlicht. Belebt wird das Feld außerdem durch Forschungszusammenhänge wie das seit 2007 an der Universität Bremen angesiedelte, mediävistisch ausgerichtete Verbundprojekt Homo debilis oder auch durch die eher zeitgeschichtlich orien-tierte Reihe Disability History des Campus Verlags, für welche der vorliegende Sammelband den Auftakt darstellt.
Disability History - eine Definition
Was aber ist Disability History? Zunächst einmal begreifen Disability Historians Behinderung nicht als natürliche Gegebenheit, sondernals eine naturalisierte Differenzkategorie, analog etwa zu Geschlecht/Gender oder Ethnizität/Race. In diesem Sinne handelt es sich bei Beeinträchtigungen wie Down-Syndrom, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Querschnittslähmung, Blindheit etc. nicht um einfache Tatsachen, sondern um soziale Konstruktionen: Welche Behinderungskategorien existieren, wie Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse verlaufen und welche Folgen sie für den Einzelnen und die Gesellschaft haben, hängt von soziokulturellen Bedingungen und somit auch vom historischen Kontext ab. Disability History stellt (Nicht-)Behinderung daher nicht als eine universelle, feststehende kulturelle Kategorie und uniforme soziale Praxis dar; vielmehr wird betont, dass über die Jahrhunderte hinweg ebenso wie zwischen den Kulturen eine große Vielfalt an Sicht- und Reaktionsweisen in Bezug auf Behinderung existierte. Mithin fragt die historische Teildisziplin, wie und unter welchen Bedingungen die Behinderten als vermeintlich homogene soziale Gruppe konstruiert wurden, wer aus welchen Gründen als behindert galt, und wie frühere Gesellschaften mit Diversität, Anderssein und Abweichung umgingen, wie also die Wechselverhältnisse von Inklusion und Exklusion jeweils gestaltet waren.
Mit dieser Perspektivierung distanziert sich die neuere Forschung deutlich von der traditionellen, dem Rehabilitationsansatz verhafteten Geschichte der Behinderung, die in essentialistischer Sicht davon ausgeht, dass es die Dichotomie behindert/nicht behindert tatsächlich gibt; die Befunde und Diagnosen voraussetzt, anstatt sie zu hinterfragen; die lediglich davon zu berichten weiß, wie Gesellschaften mit behinderten und chronisch kranken Menschen umgehen, anstatt Gesellschaft und Kultur als konstitutiv für die Behinderungskategorie zu verstehen. Entsprechende geschichtswissenschaftliche Studien haben sich lange Zeit von dem sogenannten individuellen oder auch medizinischen Modell leiten lassen, welches die Ursachen für Behinderung im Individuum verortet und letztere als Defizit bzw. zu verhütende oder zu behebende, jedenfalls zu lindernde Normabweichung definiert. Erst seit den 1970er Jahren hat sich, ausgehend von den zuerst in den angelsächsischen Ländern entstandenen Disability Studies und vor allem mit dem Namen des britischen Soziologen Michael Oliver verbunden, allmählich das sogenannte soziale Modell etabliert, welches Behinderung als Benachteiligung ansieht und die Verantwortlichkeit dafür nicht dem Individuum, sondern der Gesellschaft zuschreibt. Dieses Modell führte außerdem die Unterscheidung zwischen einerseits Impairment, der Beeinträchtigung in Form körperlicher, geistiger oder psychischer Besonderheit, und andererseits Disability als Kategorie gesellschaftlicher Diskriminierung ein. Seit den 1990er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit der Disability Historians dann zunehmend auf kulturelle Phänomene, analysierten sie doch immer öfter gesellschaftliche Stereotype, Kategorisierungen, Repräsentationen mit Bezug auf Behinderung. Intensiver wurde nun die diskursive Ebene untersucht, über die Behinderung erst als solche konstruiert wird. Im Zentrum stand das Vorhaben, den Behinderungsbegriff zu problematisieren, zu dekonstruieren und kritisch zu reflektieren. Diese Arbeiten lassen sich als Ausdruck eines kulturellen Modells verstehen.
Nicht nur in Bezug auf die Untersuchungsebenen und die Konzeptionierung des eigenen Untersuchungsgegenstands arbeiten Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen, mit unterschiedlichen Ansätzen. Vielmehr gibt es auch verschiedene Ansichten darüber, welche Rolle die Disability History im Kontext der Geschichtswissenschaft spielen soll.
Auf der einen Seite wird mit der Disability History die Hoffnung verbunden, eine neue historiographische Perspektive zu begründen: Versteht man Behinderung als eine Leitdifferenz moderner Gesellschaften, bietet sich die Chance, in diesem Rahmen nicht nur Geschichte(n) der Behinderung, sondern auch die allgemeine Geschichte neu zu schreiben. Indem im Sinne des kulturellen Modells Behinderung nicht als universales Phänomen begriffen wird, sondern als zeitgebundene Kategorie, deren Konstruktion ein Charakteristikum (post-)moderner Gesellschaften darstellt, wird der Anspruch erhoben, einen Beitrag zur Erforschung der Moderne, ihrer Schattenseiten und noch unausgeleuchteten Räume zu leisten. Behinderung wird zum exemplarischen Gegenstand, mit dem sich das allgemeine Phänomen zeigen lässt, dass Differenz erst dann hergestellt werden kann, wenn es soziokulturelle Kontexte gibt, das heißt entsprechende Rahmungen, Struk-turen und Bedingungen (zum Beispiel den Wohlfahrtsstaat) sowie auch konkrete Räume und Institutionen (wie etwa die Klinik oder die Anstalt). Die Erforschung des Nicht-Normalen kann aus dieser Sicht darüber Aufschluss geben, wie es um das Normale bestellt ist. Mit Hilfe der Fokussierung auf Behinderung, einem Phänomen, welches als das Nicht-Normale par excellence gilt, können Selbstverständlichkeiten, Normalitäten sichtbar gemacht und kritisch reflektiert werden: Das fraglos Geltende wird selbst fragwürdig, Eindeutigkeiten offenbaren ihre Ambivalenz. Der so verstandenen Disability History dient also Behinderung als analytische Kategorie, um grundlegende gesellschaftliche Ordnungsprinzipien zu erkunden.
Auf der anderen Seite gibt es die Auffassung, dass es sich bei der Disability History lediglich um eine Segmentgeschichte, analog etwa zur Migrations- oder Wissenschaftsgeschichte handelt, die auf ihr The-menfeld mit einem offen gehaltenen Set an Fragestellungen, begrifflichen Festlegungen, Theorien und Modellen zugreift, ohne den Anspruch zu erheben, der allgemeinen Geschichte mehr als nur einen weiteren inhaltlichen Aspekt und eine zusätzliche Perspektivierung hinzufügen zu können. Die Disability History in diesem Sinne konzentriert sich auf eine weitere Differenzkategorie neben den innerhalb der Geschichtswissenschaft bereits etablierten Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Generationszugehörigkeit oder Konfession. Potenzial für eine grundlegende Revision der Allgemeinen Geschichte beinhaltet die so verstandene Disability History nicht, auch weil weite Bereiche der Vergangenheit ohne jeglichen Zugriff auf die Kategorie Behinderung einer historischen Analyse unterzogen werden können.
Ebenso umstritten ist die Zuordnung der Disability History zu größeren (inter-)disziplinären Zusammenhängen. An dieser Stelle wird beispielsweise hervorgehoben, dass die Disability History als Teilgebiet der Disability Studies entstanden ist und sich somit auch deren Forschungsprogrammatik verpflichtet fühlen sollte. Dagegen steht die Auffassung, dass die Disability History der Geschichtswissenschaft zuzuordnen ist, da sie mit dieser nicht nur die methodischen Grundlagen und die Präferenz für bestimmte narrative Strukturierungsmuster teilt, sondern sich auch vorrangig von Fragestellungen, Thesen, Theoremen und Modellen inspirieren lässt, die von anderen Historikerinnen und Historikern entwickelt wurden. Aus den Disability Studies bedient sie sich - wie auch aus anderen Fachgebieten, beispielsweise der Soziologie oder der Ethnologie - allenfalls zu heuristischen Zwecken und da-mit selektiv. Eine Verpflichtung zur Orientierung an der Forschungsprogrammatik der Disability Studies ergibt sich aus dieser Perspektive nicht.
Dass in einigen Punkten durchaus unterschiedliche Meinungen existieren, verhindert die Zusammenarbeit aber keinesfalls, im Gegenteil: Dieser Sammelband zeigt, wie fruchtbar die interdisziplinäre Diskussion sein kann. Im Folgenden stellen sowohl etablierte Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Fächern als auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ihre Arbeiten vor, wobei letztere ihre Forschungsarbeiten teilweise zum ersten Mal einem breiteren Publikum präsentieren. Der Sammelband ist das Ergebnis einer gemeinsamen Tagung, die im Rahmen des Kieler DFG-Projekts "Menschen mit Behinderung in Deutschland nach 1945", großzügig unterstützt durch die Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung, im März 2014 an der Universität zu Köln erstmals Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehrerer Disziplinen zusammenführte, um über die Zeitgeschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu diskutieren. Dabei stand die Frage nach den Zäsuren und den Kon-tinuitäten im Hinblick auf deren Lebenslagen im Zentrum.
Behinderung als Kontinuität, Zäsur oder Bruch
Tatsächlich ist die Fragestellung nach Zäsuren für Menschen mit Behinderungen spezifisch gelagert, können bei dieser Gruppe doch die überindividuelle Geschichte und die Lebensgeschichte relativ deutlich entkoppelt sein. Historische Umbrüche wie der Beginn oder das Ende eines Krieges, ein Herrschafts- oder Systemwechsel, die Verabschiedung von Gesetzestexten oder eine plötzlich entstehende Wirtschaftskrise können generell von einem Individuum als weniger einschneidend empfunden werden als dessen Erlebnisse anlässlich von Einschulung, erstem Arbeitsplatz, von Heirat und der Geburt eigener Kinder, der Pensionierung oder dem Tod von Familienangehörigen bzw. Bekannten. Wird ein individueller Lebenslauf zusätzlich von Behinderung geprägt, verstärkt sich wahrscheinlich die genannte Entkopplung und es bietet sich dann geradezu an, nach Kontinuitäten, Zäsuren und Brüchen, den Verbindungen zwischen individueller Biografie, der Beeinträchtigung und deren Auswirkungen auf die weitere Lebensgeschichte zu fragen. Zugleich erweisen sich die Lebensläufe von Menschen mit Behinderungen als besonders vulnerabel, was die Auswirkungen etwa von ökonomischen Krisen oder auch staatlichen Politiken betrifft. So hat beispielsweise die von staatlichen Instanzen vorgenommene Klassifikation als behindert bis in die 1980er Jahre hinein häufig zu hochgradig institutionalisierten, von Heimaufenthalten und Sondereinrichtungen geprägten Biografien geführt, aus denen Ausstiege nur schwer zu realisieren waren. In den letzten Jahren haben wiederum der neue Trend zu inklusiven Unterstützungsstrukturen und der menschenrechtliche Ansatz in der Behindertenpolitik, als Folge der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, auch die Lebenslagen behinderter Menschen verändert. Insofern ist der Zusammenhang von gesellschaftlichen Diskursen, (sozial-)staatlicher Unterstützung, individuellem Lebenslauf und Behinderung nicht nur für die soziologische Biografieforschung, sondern auch für die geschichtswissenschaftliche Analyse von Bedeutung.
Auf der individuellen Ebene erweist sich insbesondere für Menschen, die nicht von Geburt an, sondern durch Unfall oder Krankheit mit impairment konfrontiert sind, dieser Lebensmoment oft als zentraler Bruch in der eigenen Biografie. Vor allem bei erworbener Beeinträchtigung, zum Beispiel bei einer Querschnittslähmung nach einem Unfall, ist der Bruch im Leben, sowohl wortwörtlich als auch im figu-rativen Sinne, eine allgemein gebräuchliche Metapher. Andere Beeinträchtigungen, insbesondere chronische Erkrankungen, wie etwa multiple Sklerose, Muskeldystrophie oder degenerative Augenerkrankungen, haben einen allmählichen Verlauf, wobei dieser Prozess aber ebenfalls von biographischen Zäsuren markiert sein kann, von Schnittstellen oder Schlüsselerlebnissen, wie etwa den Gebrauch des Rollstuhls ab einem bestimmten Zeitpunkt, während man kurze Zeit zuvor noch hatte gehen können. Wiederum andere Beeinträchtigungen, die wie beispielsweise das Down Syndrom oder eine Hirnschädigung angeboren oder in früher Kindheit erworben wurden, werden eher als Kontinuität erlebt, als vorhandenes personenbezogenes Merkmal, das schlichtweg zu akzeptieren und in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren ist.
Auf dieser Folie lassen sich die drei Leitbegriffe differenzieren, die für diesen Sammelband von zentraler Bedeutung sind. Kontinuität meint demnach auch in der Geschichtswissenschaft die Vorstellung von (positiv bewerteter) Beständigkeit oder (negativ beurteilter) Stagnation; sie impliziert langsame, stetige Entwicklungen, evolutionäre Transformationsprozesse, die mehr oder weniger vorhersehbar oder wie erwartet, kaum merklich und nur allmählich ablaufen. Vermutlich nur in der longue durée, im Rückblick über einen längeren Zeitraum, lassen sich Wandlungsprozesse erkennen. Zäsuren dagegen bezeichnen, wie oben schon erwähnt, Schnittstellen, prägnante Markierungen, die Entwicklungen eindeutig beeinflussen, beschleunigen oder bremsen, in andere Richtungen lenken können. Martin Sabrow hat darauf hingewiesen, dass bestimmte Zäsuren von den Handelnden erkannt und als solche bewusst erlebt werden können. Oftmals aber bleiben sie unbemerkt, und erst in der Retrospektive werden bestimmte Ereignisse als Zäsuren, sogenannte turning points, zum Beispiel von der Geschichtswissenschaft, entsprechend gedeutet. Brüche wiederum sind im Grunde ein besonderer Typus von Zäsur: Sie vollziehen sich unerwartet, abrupt und geben somit sich vollziehenden Prozessen oder auch einem Wandel bzw. einer Entwicklung eine deutliche Kehrtwendung. Als events stellen sie Diskontinuität und Unordnung her. Sie markieren Unter-Brechungen, Um-Brüche, Ab-Brüche - und repräsentieren so die Ereignishaftigkeit der menschlichen Existenz wie auch das wortwörtlich Revolutionäre in der Geschichte.
Zäsurdebatten und Periodisierungsvorschläge in der zeitgeschichtlichen Forschung
Der Umstand, dass Behinderung individuell als Kontinuität, Zäsur oder Bruch erfahren werden kann, und die Beobachtung, dass gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse Auswirkungen auf die Lebenslagen behin-derter Menschen haben, motivieren dazu, Themenfelder und Fragestellungen der Disability History an die in der Zeitgeschichtsforschung geführten Debatten um die Kontinuitäten und Zäsuren in der deutschen Nachkriegsgeschichte anzubinden. Entsprechend wurden für diesen Sammelband die Autorinnen und Autoren darum gebeten, ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand danach zu befragen, inwieweit dessen Entwicklung eher von Kontinuitäten oder Zäsuren geprägt war und für welche Zeitpunkte gegebenenfalls Zäsuren festgestellt werden können. Zusätzlich sollte reflektiert werden, inwieweit in der Forschung etablierte Periodisierungsvorshläge für den eigenen Untersuchungsgegenstand Plausibilität beanspruchen kön-nen.
Dieser Ansatz wurde aufgrund der Überlegung gewählt, dass aus zeithistorischer Sicht die Suche nach Zäsuren und Phasen zahlreiche methodische, heuristische und narratologische Vorteile bietet: Indem man Zäsuren definiert und Phasen identifiziert, werden Sinneinheiten konstruiert und strukturierende Ordnung in einen sonst chaotisch anmutenden Zeitfluss gebracht. Die Identifikation von Phasen dient somit einer stets notwendigen Komplexitätsreduktion, die auch darstellerische Vorzüge aufweist. Zudem erfordert die Suche nach Zäsuren ein bewusst angelegtes Relevanzkriterium: Um Umbrüche identifizieren zu können, muss man den behaupteten qualitativen und/oder quantitativen Umschlag zwischen einem Davor und einem Danach begründen und erklären können. Auch sollte man sich dabei bewusst sein, dass die herausgearbeiteten Zäsuren nicht Eigenschaften der Geschichte an sich sind, sondern standortabhängige Konstrukte. In anderen Worten, das Setzen von Zäsuren ist notwendigerweise eine Deutungsleistung des Historikers oder der Historikerin. Allgemein betrachtet hat die Suche nach Kontinuitäten oder Diskontinuitäten mithin das Potenzial, eine methodisch und theoretisch reflektierte Form der Geschichtsbetrachtung und -schreibung voranzubringen. Darüber hinaus wohnt Periodisierungsvorschlägen und Zäsurbehauptungen ein heuristischer Mehrwert inne, können doch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung entwickelte Phasenmodelle als Folien dienen, die verifiziert, falsifiziert oder auch modifiziert werden können. Viele der fruchtbarsten und gewinnbringendsten Debatten in der deutschen Geschichtswissenschaft haben an mehr oder weniger etablierte Periodisierungsvorschläge angedockt. Wer die These von den langen 1960er Jahren als Liberalisierungsjahrzehnt oder die Behauptung eines Bruchs in den 1970er Jahren nach dem Boom differenziert betrachten will, der sucht nach dem Gegenläufigen, dem Vernachlässigten und kann so möglicherweise neue Themen entdecken, neue Ansätze und Interpretationen generieren. Die von Sabrow formulierte Mahnung, dass Periodisierungsvorschläge stets in ihrer "räumliche[n] Geltungsbreite und strukturelle[n] Geltungstiefe" überprüft und eingeschränkt werden müssen, kann für die spezialisierte Forschung auf diese Weise gewinnbringend beachtet werden. Dies gilt auch für die Geschichte von Menschen mit Behinderungen, da deren Untersuchung die begrenzte Plausibilität des einen oder anderen Perio-disierungsvorschlags verdeutlichen kann, ist doch offensichtlich der Wandel der Lebenslagen behinderter Menschen durch spezifische Temporalstrukturen, Eigenlogiken und Pfadabhängigkeiten gekennzeichnet und somit anders gelagert als der anderer sozialer Gruppierungen.
Zwar hat Lutz Raphael kürzlich nochmals davor gewarnt, die Zeitgeschichte als "bunten Strauß lose miteinander verflochtener Bindestrich-Geschichten (Wirtschafts-, Kunst-, Sport- und andere Geschichte mehr) mit ihren eigenen Anfängen, Zäsuren und Krisenjahren" zu konzeptionieren, da dies letztlich "unsere Vorstellung von der einen Zeit, der einen Geschichte" zerstöre. Jedoch sollte die Kontingenz historischer Entwicklungen und die "Periodenverschiedenheit der Kulturgebiete" nicht aus diesem Grund negiert und der Verlust einer angeblich vorhandenen einen Geschichte als nicht zu tragisch empfunden werden, zumal Raphaels Schlussfolgerung, es sei bei der Auffächerung in Bindestrich-Geschichten nicht mehr möglich, "Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und Trends zu verstehen," nicht wirklich plausibel ist. Denn es ist durchaus möglich, Bindestrich-Geschichten, wie auch die Disability History eine ist, in Beziehung zum Wandel in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zu setzen. Ebenso können die Ursachen für beobachtete Entwicklungen im Bereich der Geschichte von Menschen mit Behinderungen gegebenenfalls mit übergreifenden Prozessen verknüpft werden, die ihrerseits, wie jene der Modernisierung, der Individualisierungoder der Globalisierung, ebenfalls nur Deutungsleistungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und keineswegs objektive Tatsachen sind.
Wenn die Suche nach Zäsuren und die Auseinandersetzung mit Periodisierungsvorschlägen einer methodisch reflektierten geschichtswissenschaftlichen Darstellung den Weg bahnen können, so birgt dieses Vorgehen doch zugleich auch gewisse Gefahren. Beispielsweise gibt es die Tendenz, Zäsurvorschläge meist an augenfälligen, oft auch an spektakulären Ereignissen festzumachen - das Kriegsende 1945, die protes-tierenden Studierenden auf den Straßen 1968, der Mauerfall 1989 usw.; wer aber nur nach solchen Zäsuren sucht, gerät in Gefahr, das Prozesshafte des Strukturellen zu unterschätzen. Besonders in der Alltagsge-schichte, der Mentalitätsgeschichte, der Sozialgeschichte, der Kulturgeschichte sind die Rhythmen von Wandel nicht nur langsamer, sie lassen sich zudem auch nicht anhand herausragender Momente exemplifizieren, vielmehr überwiegen hier die gleitenden Übergänge ebenso wie das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zusätzlich ist mit der Suche nach Zäsuren auch die Gefahr verbunden, eine mittlerweile heftig kritisierte, politik- und ereignisgeschichtlich aufgeladene top-down-Perspektive einzunehmen, denn als Zäsurereignisse werden tendenziell politische Entscheidungen, Taten großer weißer Männer eher wahrgenommen als die vielen alltäglichen Handlungen der weniger Mächtigen und Einflussreichen. Deren Handeln kann aber in der Summe ebenfalls Strukturbrüche generieren - letztere sind in der Regel nur weniger sichtbar und schwieriger in Narrative zu überführen.
Die Vor- und Nachteile von Periodisierungsvorschlägen, die hier nur kurz angedeutet werden, analysiert der Beitrag von Ralph Jessen in diesem Sammelband in extensu. Er ist den thematischen Fallstudien vo-rangestellt, diskutiert er doch die methodologischen und theoretischen Überlegungen, welche die zeithistorischen Debatten um die Zäsuren und Kontinuitäten der Phase nach 1945 geprägt haben. Zudem widmet er sich den verschiedenen Vorschlägen zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, die in den vergangenen Jahren vorgebracht worden sind. Der zweite, grundlegende Beitrag von Wilfried Rudloff bietet einen ersten Überblick, welche Zäsuren und Kontinuitäten in drei ausgesuchten Lebenslagen - Arbeit, Bildung und Wohnen - von Menschen mit Behinderungen seit 1945 festgestellt werden können. Die folgenden Beiträge sind dann speziellen Problemstellungen der Disability History gewidmet.
Zäsuren in der Geschichte von Menschen mit Behinderungen seit 1945
In der Disability History ist es von großem heuristischem Reiz, sich kritisch, affirmativ oder modifizierend mit den bereits zahlreich vorhandenen Vorschlägen, die deutsche Nachkriegsgeschichte in Zeitabschnitte einzuteilen, auseinanderzusetzen. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob für Menschen mit Behinderungen 1945 tatsächlich jene Zäsur war, welche die allgemeine Zeitgeschichte konstatiert, oder ob die sogenannten langen 1960er Jahre auch in Hinblick auf die Lebenslagen behinderter Menschen eine Einheit darstellen. Sind nicht gegebenenfalls ganz andere Zäsuren maßgeblich, wie etwa der Contergan-Skandal der frühen 1960er Jahre oder das Internationale UNO-Jahr der Behinderten 1981, das als Katalysator für die Entstehung der bundesdeutschen Behindertenbewegung angesehen wird? Ebenso gilt es zu fragen, ob allgemein anerkannte Thesen wie jene von der Liberalisierung der Bundesrepublik in den späten 1950er und den frühen 1960er Jahren mit dem Wissen um die Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland nicht doch in ihrer Geltungstiefe bestritten werden sollten. Möglicherweise kann die seitens der Geschlech-tergeschichtsforschung für die bundesrepublikanische Geschichte konstatierte "Korrektivfunktion der Analysekategorie Geschlecht" von der Analysekategorie Behinderung ebenfalls in Anspruch genommen werden. Jedenfalls lässt sich die Periodisierungsdebatte auch in der Disability History auf unterschiedliche Weise führen. Geht man chronologisch vor und unterscheidet grob die drei Bereiche Politik bzw. Recht, Dis-kurse und Zivilgesellschaft, so lassen sich folgende Zäsuren und Kontinuitäten skizzieren, die von den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes anhand eines breiten Themenspektrums diskutiert werden.
Im politisch-rechtlichen Feld kann man für Westdeutschland zunächst in den 1950er Jahren und den beginnenden 1960er Jahren Weichenstellungen ausmachen. Das Bundesversorgungsgesetz von 1950 und das Schwerbeschädigtengesetz von 1953, die sich beide der finanziellen Absicherung und beruflichen Wiedereingliederung von Kriegsbeschädigten und Arbeitsunfallopfern annahmen, sowie das Bundessozialhilfegesetz von 1961, das mit dem Unterabschnitt "Eingliederungshilfe für Behinderte" maßgeblich dazu beitrug, Behinderung als Begriff für eine besondere Lebenslage in der deutschen Rechtssprache zu verankern, müssen hier genannt werden. Ab 1969 zeichnete sich mit der Regierungserklärung Willy Brandts, in der erstmals die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen als politisches Ziel prominent artikuliert wurde, eine weitere Transformationsphase ab. Die 1970er Jahre gelten entsprechend als das Jahrzehnt einer modernen, deutlich als eigenes Politikfeld konturierten Behindertenpolitik. Mit dem Aktionsprogramm Rehabilitation, dem Schwerbehindertengesetz (1974) und dem Rehabilitationsangleichungsgesetz (1974) wurde die anhand der Beeinträchtigungsursachen differenzierende Versorgung aufgegeben und eine am Rehabilitationsziel orientierte Restrukturierung des Unterstützungssystems in Gang gesetzt, die sich jedoch insofern als pfadgetreu erwies, als Zergliederung und Uneinheitlichkeit der Sozialleistungsstrukturen nicht wirklich überwunden werden konnten. Wegweisend war zwar die 1974/76 erfolgte Regulierung des barrierefreien Zugangs zu öffentlichen Straßen, Plätzen und Gebäuden; bei der Weiterentwicklung der beruflichen Rehabilitation orientierte man sich jedoch am traditionellen Modell der Segregation, das heißt man schuf Arbeits- und Ausbildungsplätze für Menschen mit Behinderungen in speziellen Einrichtungen.
Im vorliegenden Sammelband entwickelt Elsbeth Bösl für das rehabilitationspolitische Modernisierungsprojekt der 1970er Jahre die These, dass die Behindertenpolitik zu diesem Zeitpunkt nicht auf Gleichstellung zielte, sondern vor allem anstrebte, durch Rehabilitationsmaßnahmen Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Die behindertenpolitischen Maßnahmen waren utilitaristisch ausgerichtet und gingen mit Normalisierungs- und Anpassungserwartungen einher. Dass der behindertenpolitische Wandel zugleich mit Kontinuitäten verknüpft war, lässt sich auch am Beispiel der Bildungspolitik verdeutlichen. Die Aufgabe der schulischen Rehabilitation übernahmen die Sonderschulen, die seit den 1960er Jahren errichtet worden waren. In ihrem Beitrag zeigt Anne Klein, dass trotz des auf die Veränderung der Schulstrukturen ausgerichteten und zum Umdenken auffordernden Integrationsplädoyers des Deutschen Bildungsrates von 1973 das Sonderschulwesen weiter ausgebaut wurde und es erst nach einer fast zwanzigjährigen Phase der Stagnation und Latenz ab 1994 zu einer Trendwende in Richtung auf inklusive Beschulung kam.
Tatsächlich kann dieses Datum für die gesamte Behindertenpolitik der Bundesrepublik als Zäsur angesehen werden, da ebenfalls 1994 im Gleichheitsartikel des Grundgesetzes das Verbot der Benachteiligung bei Behinderung verankert wurde. Damit waren die Weichen für eine Neuorientierung der offiziellen Politik in Richtung auf Teilhabe, Inklusion, Gleichstellung und Anti-Diskriminierung gestellt, als deren Ausdruck in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts mehrere Gesetzeswerke verabschiedet wurden. Darunter fiel das neue Rehabilitationsgesetzbuch (SGB IX) von 2001, das auf eine partizipative und bedürfnisorientierte Ausrichtung der Versorgungsstrukturen zielte; zusätzlich wurden mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (2002) und dem Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (2006) Maßnahmen zur Verwirklichung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen installiert. Wenige Jahre danach kam es zu einer erneuten Zäsur: Die Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, der sogenannten Behindertenrechtskonvention, durch die Bundesregierung (2009) stellt, so viel ist bereits klar, eine deutliche Markierung insofern dar, als Behinderung seitdem nicht mehr vorrangig als soziales Problem, sondern primär als Menschenrechtsfrage behandelt wird.
Wendet man sich den gesellschaftlichen Diskursen über Behinderung zu, so findet man im Vergleich zur Politik und Gesetzgebung andere potenzielle Zäsuren. In Hinblick auf Debatten, die in der Öffentlichkeit über behindertenspezifische Themen geführt wurden, sind die Diskussion um die Ausstrahlung des Euthanasie befürwortenden Films Die Sünderin von 1951, der Contergan-Skandal in den frühen 1960er Jahren sowie 1976 die Auseinandersetzung um die Aufnahme der pränataldiagnostischen Amniozentese in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen zu nennen. Ebenfalls öffentlichkeitsgenerierend wirkte das Frankfurter Urteil von 1980, das einer Urlauberin das Recht auf eine Preisminderung zugestand, da sie sich im Hotel durch die Anwesenheit behinderter Miturlauber gestört gefühlt hatte. Darüber hinaus können die Aktionen rund um das von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Jahr der Behinderten 1981 und der im selben Jahr stattfindende, medienwirksam gegen den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens gerichtete körperliche Angriff von Franz Christoph, mit dem dieser sich gegen die paternalistische Bevormundung behinderter Menschen wandte, angeführt werden. Die sogenannte Singer-Debatte in 1989, also die Kontroverse um die Ein- und Ausladung des australischen Bioethikers Peter Singer, der die Euthanasie schwerstbehinderter Neugeborener befürwortet, auf einem internationalem Symposium der Bundesvereinigung Lebenshilfe kann man ebenfalls als wichtige, zumindest von den Beteiligten als Einschnitt verstandene Begebenheit hervorheben. Dagegen ist die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auf einer Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte 1993 in Bonn unter dem Titel Es ist normal verschieden zu sein ein gutes Beispiel für ein denkwürdiges Ereignis, das seiner zeitgeschichtlichen Einordnung noch harrt. Dies gilt ebenso für die Debatten und Kampagnen um die Bioethik-Konvention des Europarates (1997), die wegen der dort enthaltenen Erlaubnis der Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen öffentliche Proteste hervorriefen. In jüngster Zeit zählen hierzu außerdem die Diskussion um die inklusive Erziehung und die auch in Deutschland steigende Auf-merksamkeit für die Paralympics mit ihrem vorläufigen Höhepunkt der Londoner Spiele 2012.
In diesem Sammelband können aus diesem bunten Strauß nur einzelne Themen vertieft werden. Anne Helen Günther analysiert beispielsweise die Rolle der Massenmedien bei der gesellschaftlichen Thematisierung und Konstruktion des Contergan-Falls. Die Presse fungierte als eigenständiger Akteur und war maßgeblich daran beteiligt, die conterganbedingten Folgen als eine Katastrophe nicht nur für die betroffenen Familien, sondern für die gesamte Gesellschaft zu definieren. Einen Beitrag zur Aufarbeitung des humangenetischen Diskurses leistet Britta-Marie Schenk, indem sie die Praktiken der humangenetischen Beratungsstelle in Hamburg ab den 1960er bis 1980er Jahren analysiert. Ihr Augenmerk liegt auf der Rolle der Eltern, die das Beratungsangebot als Entlastung erlebten und im Einvernehmen mit der Humangenetikerin die Sterilisation ihrer geistig behinderten Töchter befürworteten. Schenk kann zeigen, dass insbesondere in den 1980er Jahren allgemeine Liberalisierungsprozesse der illiberalen Sterilisationspraxis Auftrieb gaben und damit eugenische Traditionen erneut gefestigt wurden. Ebenfalls mit Blick auf die 1960er bis 1980er Jahre wendet sich Sebastian Barsch dem wissenschatlichen Diskurs der Rehabilitationspädagogik in der DDR zu, in dem sich die Auseinandersetzung zwischen Ost und West über die bessere Gesellschaftsform widerspiegelte. Er spürt der Entwicklung eines sozialistischen Modells von Behinderung nach und stellt die These auf, dass die Formulierung einer die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betonenden Behinderungstheorie in der DDR der 1960er Jahre als Signum einer Umbruchsphase verstanden werden kann, da damit eine Zurückweisung der rein medizinischen Sichtweise verbunden war.
Nicht zuletzt sind zivilgesellschaftliche Strukturen und Praktiken für die Disability History von zentraler Bedeutung. Auch hier gibt der chronologische Zugang Hinweise auf mögliche Zäsuren. In der Phase des Wirtschaftswunders waren vor allem geistig differente Menschen und ihre Familien die Verlierer. Ihre isolierte Lebenssituation führte 1958 zur Gründung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, der ersten deutschen Selbsthilfevereinigung betroffener Eltern nach amerikanischem und holländischem Vorbild. Während zumindest bis zum Contergan-Skandal anfangs der 1960er Jahre Öffent-lichkeit und Staat körperlich und geistig beeinträchtigte Kinder eher ignorierten, stand in jenen frühen Jahren das Problem der Kriegsbeschädigung als Folge der beiden Weltkriege im Mittelpunkt. Anknüpfend an die Erfahrungen der Weimarer Republik erwiesen sich zunächst vor allem die Interessen der Kriegsopfer und ihrer Angehörigen auch in der damaligen Bundesrepublik in hohem Maße als organisations- und politikfähig. Auf der Ebene der Interessenorganisation von und für Menschen mit zivilen Behinderungen sollte es bis zum Ende der 1960er Jahre dauern, bis ein Wandel einsetzte.
Die Gründung der ersten Clubs Behinderter und ihrer Freunde in den späten 1960er Jahren, der von dem behinderten Aktivisten Gusti Steiner und dem Publizisten Ernst Klee ab 1973 an der Frankfurter Volkshochschule angebotene Kurs zur Bewältigung der Umwelt und die Entstehung der ersten sogenannte Krüppelgruppe 1977 in Bremen werden in diesem Sammelband von Jan Stoll ausführlich analysiert. Dabei begreift der Autor die Proteste gegen das Internationale Jahr der Behinderten 1981 als bewe-gungsgeschichtliche Zäsur und hebt hervor, dass die Entstehung der westdeutschen Behindertenbewegung in gesamtgesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse der 1980er Jahre eingebettet war. Von Kontinuitäten in der sozialen Bewegung von Menschen mit Behinderungen weiß dagegen Swantje Köbsell zu be-richten. Für den Zeitraum der 1980er und 1990er Jahre stellt sie fest, dass sich die Behindertenbewegung durchgehend weder für Geschlecht noch für besondere Körper interessiert hat, obwohl der Körper in den Themen der Bewegung und den Erfahrungen der Aktivistinnen und Aktivisten immer präsent war. Während Genderfragen nahezu ausschließlich von behinderten Frauen problematisiert wurden, galt das primäre Interesse der männlich dominierten Behindertenbewegung dem politischen Kampf gegen die aussondernden, gesellschaftlichen Bedingungen. Gleichwohl spielte der Körper, nämlich im Sinne sportlicher Betätigung, für Menschen mit Behinderungen, unter ihnen zunächst vorrangig die kriegsverletzten Männer, auch in der Zeitgeschichte eine zentrale Rolle. In diesem Sammelband weist Sebastian Schlund den Funktionswandel des westdeutschen Behindertensports zwischen therapeutischer Heilmaßnahme und selbstbestimmtem Freizeitverhalten für die Zeitspanne 1945 bis 1990 nach. Er kann zeigen, dass der Behindertensportverband als Interessenvertretung der Sportler mit Behinderungen sich lange Zeit gegen die Öffnung für andere Ziel-gruppen, zum Beispiel zivilbehinderte Männer und Frauen sowie Kinder und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sperrte und dem Integrations- wie auch dem Leistungsgedanken eher ablehnend gegen-überstand. Als Fazit hält Schlund fest, dass Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung auch auf den Behindertensport ausstrahlten; jedoch sei eher von einer Scharnierphase in den Jahren 1969 bis 1975 zu sprechen als von einem plötzlichen und radikalen Umbruch.
Ausblick
Überblickt man die Ergebnisse des vorliegenden Sammelbandes, so ist Skepsis angebracht, ob die etablierten zeithistorischen Vorschläge zur Phaseneinteilung der deutschen Nachkriegsgeschichte auch für die Geschichte von Menschen mit Behinderungen Plausibilität beanspruchen können und ob die allgemeinen Zäsuren, die in der Forschung oft herausgestellt werden - 1945, 1968, 1973/74 usw. - für diese Personengruppe ebenfalls von großer Relevanz waren. Sicherlich: In den von der Forschung oft als Scharnierphase beschriebenen frühen 1970er Jahren beschleunigte sich zwar auch für viele Menschen mit Behinderungen der Wandel ihrer Lebenslagen. Doch vielleicht waren die frühen 1980er Jahre, in denen erstmals eine bundesweite Vernetzung von Aktivistinnen und Aktivisten der sich formierenden Behindertenbewegung stattfand, die mit ihren For-derungen nach Selbstbestimmung und Bürgerrechten in die Öffentlichkeit trat, doch zentraler, insbesondere was die Veränderungen der gesellschaftlich kursierenden Bilder und Einstellungen zu Behinderung betrifft. Der von Anselm Doering-Manteuffel und Raphael konstatierte tiefgreifende Wandel von Normen und kulturellen Orientierungsmustern fand für Menschen mit Behinderungen jedenfalls nicht bereits in den frühen 1970er Jahren, sondern erst mit deutlicher Verspätung statt. Insofern spricht einiges für die These, dass erst in den 1980er Jahren infolge der nun formulierten Autonomieforderung von und für Menschen mit Behinderungen eine "nachholende und verzögerte Befreiung" als Reaktion "auf die fortgeschrittene Indivi-dualisierung der erweitert liberalen Moderne" stattfand. Oder sollte man gar einen fundamentalen Wandel noch später verorten, eventuell erst nach der Jahrtausendwende, als - wie oben erwähnt - 2009 die Be-hindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland geltendes Recht wurde?
Die Ergebnisse dieses Sammelbandes erlauben die These, dass die soziale Differenzkategorie Behinderung später als andere Ungleichheitskategorien, wie etwa gender oder ethnische Zugehörigkeit, gesellschaftlich thematisiert wurde. Möglicherweise konnten strukturkonservative Elemente länger wirkungsmächtig bleiben, weil althergebrachte Konstruktionen von Behinderung als leidvollem Schicksal retardierend wirkten. Auch könnten Berührungsängste oder Tabuisierungen und gesellschaftliche (von Mitleid geprägte) Bilder von den Behinderten als passiven Objekten zu dieser verspäteten Thema-tisierungskonjunktur geführt haben. Ein weiteres Ergebnis dieses Sammelbandes stellt der Zweifel dar, ob überhaupt von einer Geschichte der Menschen mit Behinderungen in Deutschland gesprochen werden kann. Entsprechend dem Intersektionalitätsansatz wird deutlich, dass die Verschränkung der Ungleichheitskategorie Behinderung mit jener des Geschlechts oder auch der Generation zu jeweils spezifischen Ent-wicklungslogiken führt, die es als obsolet erscheinen lassen, Menschen mit Behinderungen als homogene Gruppe zu konzeptionalisieren: So hatten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts etwa die Ursachen der Beeinträchtigungen - ob sie beispielsweise kriegs- oder arbeitsunfallbedingt waren oder bereits seit der Geburt existierten - lange Zeit entscheidenden Einfluss auf die Ausprägung von Unterschieden in Hinblick auf die Lebenslagen. Neben den Ursachen waren zusätzlich auch die Beeinträchtigungsformen entscheidend: Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen sind offensichtlich andere Zäsuren bedeutsam als für Menschen mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Die Entwicklung der Lebenslagen weist jeweils andere, beeinträchtigungsspezifische Rhythmen und unterschiedliche Phasen verdichteten Wandels auf. Insbesondere für die Gruppe der Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bzw. Lernschwierigkeiten existieren allerdings Forschungsdesiderata; hier steckt die zeitgeschichtliche Bearbeitung noch in den Anfängen. Dies gilt ebenfalls für die Geschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR, die bislang allenfalls fragmentarisch aufgearbeitet worden ist. Auch der Lebensbereich Wohnen und die Erfahrungen von behinderten Menschen in Heimen und anderen Institutionen verdienten mehr geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit. Insgesamt kann der vorliegende Sammelband nur einen ersten Überblick über die deutsche Nachkriegsgeschichte von Menschen mit Behinderungen geben. Mit ihm ist die Hoffnung verbunden, dass er wissenschaftliche Aufmerksamkeit für ein ertragreiches Untersuchungsfeld generieren möge, in dem es noch viele Forschungslücken aufzufüllen gilt.
Inhalt
Inhalt
Einleitung: Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche in der deutschen Disability History nach 1945 7
Gabriele Lingelbach und Anne Waldschmidt
Zäsuren, Phasen, Kontinuitäten - Zur chronologischen (Un-)Ordnung der deutschen Nachkriegsgeschichte 28
Ralph Jessen
Lebenslagen, Aufmerksamkeitszyklen und Periodisierungsprobleme der bundesdeutschen Behindertenpolitik bis zur Wiedervereinigung 54
Wilfried Rudloff
Bundesdeutsche Behindertenpolitik im"Jahrzehnt der Rehabilitation" - Umbrüche und Kontinuitäten um 1970 82
Elsbeth Bösl
Inklusion als bildungspolitisches Paradigma - Verhandlungen über Wissen, Macht und Zugehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, 1964-1994 116
Anne Klein
Der Contergan-Fall als Zäsur in den 1960er Jahren? Eine mediengeschichtliche Analyse 142
Anne Helen Günther
Janusköpfige Liberalisierung - Zur Rolle der Eltern geistig behinderter Kinder in der humangenetischen Beratung der 1960er bis 1980er Jahre 166
Britta-Marie Schenk
Der geschädigte Mensch in der Rehabilitationspädagogik der DDR - Entfaltung und Wirkung eines sozialistischen Modells von Behinderung 191
Sebastian Barsch
Neue Soziale Bewegungen von Menschen mit Behinderungen - Behinderten- und Krüppelbewegung in den 1970er und 1980er Jahren 214
Jan Stoll
Besondere Körper - Geschlecht und Körper im Diskurs der westdeutschen Behindertenbewegung der 1980er und 1990er Jahre 239
Swantje Köbsell
Funktionswandel des westdeutschen Behindertensports zwischen therapeutischer Heilmaßnahme und selbstbestimmtem Freizeitverhalten (1945-1990) 262
Sebastian Schlund
Autorinnen und Autoren 289
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