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Das erschöpfte Selbst

Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Campus Bibliothek

Erschienen am 15.01.2015, 2. Auflage 2015
25,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593501109
Sprache: Deutsch
Umfang: 340 S.
Format (T/L/B): 2 x 21.5 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Eigenverantwortung, Selbstverwirklichung, Streben nach Glück und Erfolg sind Ansprüche, die in der modernen kapitalistischen Gesellschaft wie selbstverständlich von jedem und jeder übernommen werden. Viele Menschen scheitern daran und reagieren mit innerer Leere, mit Depression, Antriebslosigkeit und Suchtverhalten auf ihr vermeintliches 'Versagen'. So lautet die Analyse des französischen Soziologen Alain Ehrenberg, dessen Buch - 1998 in Frankreich erschienen, 2004 in deutscher Übersetzung - zu einem Bestseller wurde. Inzwischen ein Klassiker, erscheint das Buch in einer Neuausgabe mit einer aktuellen Einleitung des Autors. 'In einer faszinierenden Zusammenführung von quantitativer Sozialforschung, Psychiatriegeschichte und Sozialpsychologie zeigt Ehrenberg, dass die Ausbreitung depressiver Erkrankungen die Folge einer institutionellen Überforderung der Subjekte ist.' Axel Honneth 'Ein brillanter Essay über den Zustand des modernen Menschen.' Psychologie Heute

Autorenportrait

Alain Ehrenberg, geb. 1950 in Paris, ist Soziologe und Leiter der Forschungsgruppe 'Psychotropes, Politique, Société' (Psychopharmaka, Politik, Gesellschaft) am Centre National de Recherche Scientifique (CNRS), Paris. Mit 'Das erschöpfte Selbst' wurde er international bekannt. 2010 folgte sein Buch 'La société du malaise', dt. 'Das Unbehagen der Gesellschaft' (2011).

Leseprobe

Jenseits der Depression: Wovon wir reden, wenn wir von mentaler Gesundheit reden Zur Neuausgabe 2015 Dieses Buch kam in Frankreich im Jahr 1998 heraus, in deutscher Übersetzung im Jahr 2004. Seine Neuausgabe erscheint hier unverändert - nicht weil das Buch eine Überarbeitung nicht nötig gehabt hätte, sondern weil es von Anfang an als eine Baustelle angelegt war, um neue Forschungswege zu erschließen. Seine Grenzen veranlassten mich zu weiteren Untersuchungen, mit denen die angeschnittenen Perspektiven präzisiert werden konnten. Diesen Perspektiven will ich mich hier widmen. Soziale Pathologie, soziale Leiden: Individualismus als gesellschaftliches Leid Die Frage nach mentaler Gesundheit ist - über den medizinischen Aspekt hinaus - zu einem zentralen gesellschaftlichen und politischen Problem unserer Zeit geworden. Die Angst- und Depressionssymptome, die den Kern der meisten psychischen Leiden ausmachen, werden heute zu einem Großteil als soziale Leiden verstanden, als Leiden, deren Ätiologie in der Gesellschaft zu suchen ist (bei Kindern in der Schule, bei Erwachsenen in der Arbeit) - anders gesagt: als eine soziale Pathologie. So wird die Ergänzung des Wortes "Pathologie" durch das Adjektiv "sozial" den Leitfaden unserer Untersuchung bilden. Der Grundgedanke ist, dass die Pathologien das Produkt sozialer Beziehungen sind, dass sie deshalb etwas über unsere Lebensgewohnheiten verraten, über die Art und Weise, wie wir in der Gesellschaft leben und handeln, und dass aus diesen Pathologien eine moralische, gesellschaftliche und politische Lehre zu ziehen ist. Diese Lehre dreht sich um das Problem des gesellschaftlichen Leids - eines Leids, das durch schädliche, ungesunde, ungerechte oder repressive soziale Beziehungen verursacht wird. Die Art der Symptome enthüllt uns eine Kehrseite der Entwicklung moderner Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund verknüpft heute eine starke Strömung kritischen Denkens die Fragen der Ungerechtigkeit und, allgemeiner, der Beschaffenheit sozialer Beziehungen mit dem Problem des psychischen Leidens. Gehen wir von den Schriften Axel Honneths aus, weil der Begriff der sozialen Pathologie im Zentrum seiner Kapitalismuskritik steht. Honneths Ansatz erscheint mir repräsentativ für einen soziologischen und anthropologischen Zugang zu den Fragen mentaler Gesundheit, wohingegen ich nach einem deskriptiven Ansatz suche. Er ist Teil einer allgemeinen Tendenz, die man das Modell von Herrschaft und Widerstand nennen könnte, ein Modell, demzufolge psychische Leiden und geistige Pathologien Gegenstand einer radikalen Kritik der modernen Gesellschaft sind. Das erschöpfte Selbst wurde (allzu) oft diesem Modell zugeordnet - vielleicht deshalb, weil Axel Honneth die vorliegende Übersetzung seinerzeit angeregt hat und sie in der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung publiziert wurde; aber auch deshalb, weil es den entwickelten Perspektiven an Präzision fehlte. Honneth nimmt an, "dass es in der Sozialphilosophie vordringlich um eine Bestimmung und Erörterung von solchen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft geht, die sich als Fehlentwicklungen oder Störungen, eben als Pathologien des Sozialen, begreifen lassen" (1994, S. 10). In seiner Analyse des neoliberalen Kapitalismus vertritt er den dialektischen Gedanken, dass der Kapitalismus die in den 1960er Jahren zutage getretenen Protestpotentiale und Selbstverwirklichungsideale vereinnahmt, instrumentalisiert und in eine "Ideologie der Entinstitutionalisierung" verwandelt habe; das Resultat sei "die Entstehung einer Vielzahl von Symptomen innerer Leere, des Sich-Überflüssig-Fühlens und der Bestimmungslosigkeit" (2002, S.146). An die Stelle der marxistischen Analyse der Widersprüche von Kapital und Arbeit tritt der Gedanke der "Paradoxien" des neuen Kapitalismus, zum Beispiel der Tatsache, dass er sich der Anerkennung bedient, sie aber instrumentalisiert - so ist nicht mehr von "Arbeitskräften" die Rede, sondern von Arbeitnehmern als "Unternehmern" ihrer selbst (ebd., S. 152). Aus der Tatsache, dass der neoliberale Kapitalismus Menschen benötigt, die fähig zur Selbstveränderung sind, seien "Formen eines sozialen Unbehagens und Leidens erwachsen, die in der Geschichte der westlichen Gesellschaften bislang als Massenphänomene unbekannt waren" (ebd., S. 155). Die Psychoanalyse spielt für die Erklärung dieser Pathologien des Sozialen eine wichtige Rolle. Honneth erinnert daran, dass Horkheimer und Adorno mit Freud "eine Verbindung zwischen mangelhafter Rationalität und individuellem Leiden" herstellen konnten; und dass "der Anstoß dazu, die Kategorie des Leidens überhaupt mit Pathologien der gesellschaftlichen Rationalität in Verbindung zu bringen", erst von dem Freudschen Gedanken ausging, "dass jede neurotische Erkrankung aus einer Beeinträchtigung des rationalen Ich hervorgegangen ist und in einen individuellen Leidensdruck münden muss" (2007, S. 51 f.). Denn es bestünde "zwischen psychischer Intaktheit und unverzerrter Vernünftigkeit ein interner Zusammenhang" (ebd., S. 53). Der Schluss ist etwas mechanisch: Eine Gesellschaft wäre vernünftig, wenn sie das psychische Gleichgewicht ihrer Mitglieder gewährleistet. Das entspricht in keiner Weise dem Freudschen Denken der geistigen Pathologie - zum einen, weil ihre ganze Herleitung eine gesellschaftliche Kausalität der Symptome ausschließt, und zum anderen, weil die Kultur für Freud auf Triebunterdrückung beruht: Schuldgefühl und moralisches Gewissen lassen zwar das moderne Individuum leiden, darin liegt aber für Freud nichts Pathologisches. Es ging ihm eher darum, die Neurosen (vielleicht auch die Psychosen) als funktionale Pathologien zu begreifen, weil sie zentrale Werte der Kultur betreffen, deren Störungen in den Symptomen zum Ausdruck kommen (wie zum Beispiel der Schuldwahn in der Melancholie). Noch komplizierter wird es, wenn wir uns ansehen, was Freud in Das Unbehagen in der Kultur über die soziologische Anwendbarkeit der Psychoanalyse schreibt. Am Ende dieser Schrift formuliert er eine kritische Bemerkung über die besagte Kultur: Das kollektive Über-Ich "erlässt ein Gebot und fragt nicht, ob es dem Menschen möglich ist, es zu befolgen" (GW 14, S. 503). Er wirft dann die Frage auf, ob sich die Gesellschaft mittels der Psychoanalyse im Kontext einer Kollektivneurose analysieren lässt - ob nicht "manche Kulturen", wie er schreibt, "unter dem Einfluss der Kulturbestrebungen neurotisch geworden sind? An die analytische Zergliederung dieser Neurosen könnten therapeutische Vorschläge anschließen, die auf großes praktisches Interesse Anspruch hätten." (Ebd., S. 504) Anders als unsere Zeitgenossen, die größtenteils nicht nur dieses praktische Interesse für ausgemacht halten, sondern die Psychoanalyse vor allem als ein geeignetes Instrument für den Übergang von der Individual- zur Gesellschaftsanalyse betrachten, hält sich Freud hier zurück. "Ich könnte nicht sagen", fährt er fort, "dass ein solcher Versuch zur Übertragung der Psychoanalyse auf die Kulturgemeinschaft unsinnig oder zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre. Aber man müsste sehr vorsichtig sein, nicht vergessen, dass es sich doch nur um Analogien handelt []. Auch stößt die Diagnose der Gemeinschaftsneurosen auf eine besondere Schwierigkeit. Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als normal angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse []. Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwarten, dass jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen wird. Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben, liegt mir aus den verschiedensten Motiven sehr ferne." (Ebd., S. 504 f.) Nicht nur, dass die Pathologie kultureller Gemeinschaften zu einer modischen Literaturgattung geworden ist, dieses Genre besteht auch hauptsächlich aus Wertungen. Freuds Unbehagen gegenüber einer Anwendung der Psychoana...

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Der Preis der Freiheit

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