Beschreibung
Spätestens seit der Finanzkrise 2008 hat der Begriff des Kapitalismus wieder Konjunktur, und mit Thomas Pikettys Bestseller auch die Frage nach sozialer Ungleichheit. In diesem Buch denken die Autorinnen und Autoren - unter Federführung von Heinz Bude und Philipp Staab - beide Dimensionen systematisch zusammen. Dass der Kapitalismus soziale Ungleichheit hervorbringt, ist dabei keine Neuigkeit. Wohl aber ist es in der Soziologie ein Novum, nach der kapitalistischen Logik hinter der Entwicklung sozialer Ungleichheit zu fragen, und zwar jenseits des "methodischen Nationalismus" im Kontext der Globalisierung. Der Band bietet neue Impulse für eine als Zeitdiagnose verstandene Kapitalismustheorie und liefert überraschende Analysen zu neuen Wertschöpfungsmustern im Finanzmarkt- und digitalen Kapitalismus, zu Arbeitsmärkten und politischer Herrschaft in der Weltgesellschaft, zur Artikulation politischer Kollektive und zum Stand der Kapitalismuskritik. Mit Beiträgen unter anderem von Manuela Boatca, Tobias ten Brink, Heinz Bude, Klaus Dörre, Silke van Dyk, Sighard Neckel, Wolfgang Streeck, Göran Therborn und Anja Weiß.
Autorenportrait
Heinz Bude ist Professor (i.R.) für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Philipp Staab ist Professor für Soziologie von Arbeit, Wirtschaft und technologischem Wandel an der Humboldt-Universität zu Berlin und Co-Direktor am Einstein Center Digital Future.
Leseprobe
Einleitung: Kapitalismus und Ungleichheit -Neue Antworten auf alte Fragen Heinz Bude und Philipp Staab Man braucht nicht so viel Mut für die Behauptung, dass soziale Ungleichheit das gesellschaftliche Megathema der nächsten dreißig Jahre sein wird. Die großen Trends, die unsere Lebensweise auf dem Globus verändern, wie der klimatische, der demographische sowie der digitale Wandel werden von der weltweit sich verändernden gesellschaftlichen Ungleichheit gebrochen. Schließlich hängt es von unserer Ausstattung mit Geld, Macht und Wissen ab, wie uns der Klimawandel trifft, wie sich unser Lebensalter vor, mit und vor allem nach der Erwerbsarbeit gestaltet und welchen Nutzen wir aus den Angeboten digitaler Lebensassistenz ziehen können. Für die Soziologie der Gegenwart geht es darum, die Schicksale der Ausgesetztheit und Privilegien des Schutzes, die Versperrung von Zugängen und die Monopolisierung von Ressourcen als systematische Effekte des sozio-ökonomischen Wandels zu begreifen. Sie muss dabei konzedieren, dass nicht von vorneherein ausgemacht ist, wer die Gewinner und wer die Verlierer weltgesellschaftlicher Veränderungsdynamiken sein werden. Werden die Bewohner der alten Welt des OECD-Raums wie in den vergangenen 200 Jahren die Nase vorn haben oder werden sich in einer neu konturierten Weltgesellschaft Gruppen an die Spitze setzen, deren Pioniergewinne und Hybridgestalten mit dem methodischen und semantischen Instrumentarium der klassischen Soziologie kaum noch zu fassen sind? Seit der letzten Jahrhundertwende stellt sich jedenfalls die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der Globalisierung unserer Weltbezüge und der Entwicklung sozialer Ungleichheit bestehen. Die passende Antwort hat man allerdings nicht sogleich zur Hand. Grundlagentheoretisch versucht die Soziologie sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie aus multiplen Differenzen zwischen Individuen, Gruppen und Nationen durchschlagende Ungleichheiten werden (Diewald/Faist 2011). Dahinter steht die Frage, wie die Welt von morgen aussehen wird, wenn Europa nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung stellt, wenn in den Schwellenländern von heute eine neue Mittelklasse den Ton angibt (Mau 2012) und wenn in Afrika die großräumigen Feldversuche mit Saatgut und Smartphone eine bisher ungeahnte Ökologie des Neuen erzeugt haben (Geissler u.?a. 2012). Das Gesellschaftsdenken kommt unter diesen neuen Bedingungen auf sein klassisches Format zurück: auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, auf die Form und Funktionsweise von Herrschaft sowie auf die Erzeugung von Legitimität und die Formierung von Kritik (vgl. Dahrendorf 1961). Immer lauter wird heute die Frage gestellt, was nach dem Ende der dreißigjährigen Periode, die mit dem Machtantritt von Margret Thatcher in Großbritannien, von Deng Xiaoping in China und von Ronald Reagan in den USA begonnen hat und mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 zu Ende gegangen ist, zu erwarten steht. Erleben wir "das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" (Crouch 2011) oder treten wir ein in ein Zeitalter der Abdankung Europas und der gesamten OECD-Welt und des Aufstiegs des riesigen Rests der Menschheit? Kennt die Welt, die sich mit der Globalisierung von Ökonomie, Migration, Wissenschaft und Kulturindustrie zu einem polyzentrischen Raum der weltweiten Vergleichbarkeit bei gleichzeitiger Zuspitzung der Unterschiede verwandelt hat, überhaupt noch die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft oder ist das Kommende nur noch als Effekt zunehmend interdependenter, aber letztlich kontingenter Handlungssequenzen denkbar? Mit diesen Fragen rührt die Soziologie der Ungleichheit an die Grundgegebenheiten unserer Lebensweise. Sie verspricht aus Sicht des Publikums die Wahrheit über die Spaltung der Gesellschaft, über die Unterwerfung der Leute und über den Betrug der Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen, indem sie mit einer Konstellation wechselseitiger Abschreckung bricht, die über eine lange Zeit das gesellschaftswissenschaftliche Denken beherrscht hat: der Gegenüberstellung des Marktes, der nach einem Gesetz ohne Erbarmen funktioniert, und der Kultur, die den Eigensinn der Lebenspraxen konserviert. Mit der wahlweisen Heiligung des Marktes als Anderem der Kultur oder der Kultur als Anderem des Marktes waren die Einflusssphären der Gesellschaftsbeobachtung lange Zeit abgesteckt. Auf der Strecke blieb die Kategorie der Gesellschaft als eigentliche Grundlage dieses kalten Friedens und Verbindungsglied zwischen den Sphären ökonomischer Selbstdurchsetzung und kultureller Selbstverwirklichung. Mit dem Ungleichheitsthema ist die Gesellschaft zurückgekehrt und damit ein Wirklichkeitsbedarf, der sich offenbar nicht nach Maßgabe eines historistischen Antiessentialismus befriedigen lässt, welcher sich in der Klärung von Beobachterstandpunkte und der Entschlüsselung von Wissenssystemen erschöpft - aber sicher auch nicht nach Art eines ökonomischen Evolutionismus, der sich im Gefolge von Hayek oder Kondratjef an den Triebwagen des Fortschritts hält, der nun mal Sieger und Besiegte, Herrschende und Beherrschte, Nützliche und Überflüssige hervorbringt. Die Soziologie der Ungleichheit ist, womöglich anders als die Organisations-, Netzwerk- oder Mediensoziologie, darauf angewiesen, die Erfahrungstatsachen von Privilegierung und Benachteiligung, von Teilhabe und Exklusion, Macht und Ohnmacht so abzubilden, wie sie sich den Betroffenen darstellen. Es geht, wie Husserl seinerzeit gefordert hatte, um die "Rückkehr zu den Sachen selbst" (Husserl 2009 [1911]), um am Leitfaden von Phänomenen und Problemen (Bude 2008), die in der Praxis der Menschen eine Bedeutung haben, zu klären, was uns unter den Nägeln brennt, worunter wir alle leiden und wie wir uns zu retten versuchen. Gesellschaftsanalyse jenseits des Ressentiments Für eine solche Gesellschaftsbeschreibung besteht allerdings die Gefahr der Empörungsverstärkung und Misstrauensunterstützung. Die Soziologie kämpft immer mit der Versuchung, ihrem eingebildeten Mandanten zu schmeicheln und dabei nicht mehr zu merken, wie dieser schon die Regie über die eigene Erkenntnisproduktion übernommen hat. Als wissenschaftliche Disziplin besitzt sie seit ihren Anfängen diese Seite einer, mit Nietzsche gesprochen, Ressentiment-Wissenschaft, die einen polemischen Gesellschaftsbegriff bedient. Doch Kritik wird dann billig, wenn sie in der Rollenübernahme der "Erniedrigten und Beleidigten" - eine Formel nicht von Marx, sondern von Dostojewski - das Vorrecht in Anspruch nimmt, für die Leute zu sprechen, die ihr Leben unter nicht selbst gewählten Bedingungen führen müssen, aber in vorauseilender Empathie das theoretische Rätsel des Zusammenhangs zwischen Freiheitsspielräumen und Zurichtungsmechanismen ungelöst lässt. Gesellschaftstheoretische Gewinne bleiben auf der Strecke, wenn ein ums andre Mal die Ergebnisse der Ungleichheitsforschung zur Skandalisierung von Ungerechtigkeiten bei Bildung, Gesundheit oder Geschlecht herangezogen und dabei die Kontroversen bei der Deutung dieser Sachverhalte verschwiegen werden. Dann wird nicht die Akzeptanz von gesellschaftlicher Ungleichheit geklärt, sondern die Inakzeptanz von Abständen bei Einkommen und Vermögen und von Schranken im Auf- und Abstieg zur Schau gestellt. Dazu passen Herrschaftstheorien, welche die Durchgängigkeit eines Dominanzerzeugungsmechanismus unterstellen, bei dem wenige aktiv und die meisten passiv sind und die oft ein Verhältnis von Elite und Masse bestätigen. Wenn dann noch Ideologiekritik in der Weise geübt wird, dass ein externer Beobachter die Verkehrtheit der Verhältnisse und die Unüberwindbarkeit der Widersprüche erkennt, deren Erfassen den Betroffenen selbst verschlossen ist, dann droht die Gesellschaftstheorie zu einem geschlossenen System entweder prophetischer Endzeiterwartung (und sei es in Form eines verzögerten Messianismus "kommender" oder "vertagter Demokratie" (Derrida 2003: 37)) oder stoischer Weltflucht (u...