Beschreibung
Die Etablierung staatlicher Strukturen gilt in vielen Ländern Südamerikas als gescheitert, der Staat dort als ein korruptes Gebilde, als ein unfähiger politischer Verband, der seinen Aufgaben und Pflichten gegenüber der Gesellschaft nicht nachkommt. Michael Riekenberg folgt in diesem Buch einem anderen, neuen Gedanken: Es beschreibt den Staat entlang seiner historischen Entwicklung - von 1500 bis zu den Regimen des Staatsterrors der 1960er- und 1970er-Jahren - als eine Geschichte geteilter Ordnungen, was die Organisation von Herrschaft oder die Ausübung von Souveränität betrifft.
Autorenportrait
Michael Riekenberg ist emeritierter Professor für Vergleichende Geschichtswissenschaft und Geschichte Lateinamerikas an der Universität Leipzig. Er gilt als einer der führenden Gewaltforscher zur Geschichte Lateinamerikas.
Leseprobe
Vorwort Dieses Buch folgt nur einem Gedanken: Es beschreibt den Staat in Lateinamerika als eine Geschichte geteilter Ordnungen. Denn dadurch können wir, so der Glaube, diesen Staat, wie er in der neueren Geschichte geworden ist, besser verstehen. Und zugleich räumen wir ihm auf diese Weise wieder einen Platz ein in den allgemeinen Erörterungen des Staates und des Staatsbegriffs, die in der Wissenschaft geführt werden. Aus diesen Betrachtungen war der Staat in Lateinamerika seit geraumer Zeit eher verschwunden, wohl weil er vielen nur als ein nicht recht gelungenes Abbild des europäischen Staates gilt, das näher zu analysieren nicht lohnt. In diesem Buch wollen wir den Staat in Lateinamerika dagegen in seiner eigenen Geschichte betrachten und ihn in dieser Geschichte würdigen. Denn wir können aus der Geschichte dieses Staates viel lernen, nicht nur mit Blick auf Lateinamerika, sondern auch was unser Wissen um den Staat im Allgemeinen angeht. Dieses Buch behandelt nicht die altamerikanischen Staaten, sondern setzt mit der Errichtung des neuzeitlichen Staates in Amerika ein und folgt in der Reihung der Kapitel der Chronologie. Das Buch ist aus der Literatur gearbeitet, anders wäre der Gegenstand für einen Überblick dieser Art nicht zu bewältigen. Um die Bibliographie nicht noch weiter anwachsen zu lassen, werden mitunter nur Sammelbände zitiert, nicht der einzelne Aufsatz. Mitunter greife ich in diesem Buch auf meine älteren Arbeiten zurück, soweit sie für mich noch eine Bedeutung haben; mitunter übernehme ich Text daraus, ohne dies immer kenntlich zu machen oder gesondert darauf hinzuweisen. Jürgen Hotz danke ich für die Durchsicht des Manuskripts. Göttingen, im Frühjahr 2017 Michael Riekenberg? Einführung Die Geschichtswissenschaft hat die staatliche Ordnung in Lateinamerika lange Zeit nicht aus dem Verhältnis heraus, in dem Menschen zum Staat standen, gedeutet, sondern aus der Idee des Staates heraus behandelt. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich. Denn die Geschichtswissenschaft arbeitet bevorzugt aus den Quellen staatlicher Archive. Dort fand sie diese Idee des Staates, sowohl in der Aufteilung, Gliederung und Ordnung des Archivs wie in den Schriftstücken, die es aufbewahrt und aus denen die Sprache des Staates spricht. Und weil sie an die Autorität des Archivs und an die Macht der Quelle glauben muss, da dieser Glaube erst ihre Identität als Wissenschaft verbürgt, hat die Geschichtswissenschaft die Sprachspiele, die das Archiv ihr gab, oft genug nur übernommen und nacherzählt. Somit galt ihre Sorge in erster Linie dem Staat und seiner Idee selbst, wenn sie den Staat betrachtete und über ihn schrieb. Jedoch ist wohl überflüssig an dieser Stelle näher auszuführen, dass der Staat - in der Geschichte Lateinamerikas wie andernorts auch - sich von der Idee des Staates, wie wir sie besonders klar in den Texten der Staatsphilosophie erörtert finden, unterschied. Diese Diskrepanz ist in der Wissenschaft vielfach bemerkt und im Regelfall zum Nachteil des Staates gewertet worden, diese Diskrepanz steht auch am Anfang dieses Buches. Aber dessen Ziel ist nicht, Klage über den Staat in Lateinamerika und die von ihm erlassene Ordnung zu führen, als sei dieser Staat missraten oder wäre er seinen Aufgaben und Pflichten nicht recht nachgekommen, einem Versager gleich. Vielmehr stellt es die Frage, wie Menschen den Staat in Lateinamerika - genauer müssten wir im Plural von Staaten sprechen, wie im Verlauf dieses Buches noch zu sehen sein wird - für sich begriffen und wie sie ihn dadurch erst zu dem machten, was er wurde. Denn das ist die Grundannahme, von der dieses Buch ausgeht: Dass der Staat nicht einfach in seinen Beamten, Verwaltungen oder Gesetzen "da" ist, sondern erst in der Bedeutung, die sowohl seine Angehörigen selbst wie die Menschen, die er regieren will, ihm geben, sein Dasein erhält. Somit existiert der Staat nicht einfach, sondern er wird erst dadurch, dass Menschen sich über ihn verständigen, beständig erzeugt. Nun bringt es die Sprache in diesem Buch mit sich, dass der Staat, von dem hier die Rede ist, vor den Augen des Lesers vergegenständlicht erscheint, als sei er ein klar umrissenes, einheitliches und einem Menschen gleich handelndes Gebilde, was aber sämtlich nicht zutrifft. Zwar besitzen wir berühmte Vorbilder, wenn wir so verfahren: In dem Leviathan, der am Anfang aller neuzeitlichen politischen Theorie des Staates steht, hatte Thomas Hobbes den Staat ja bekanntlich als einen künstlichen Menschen beschrieben. In gewisser Hinsicht verfahren wir in diesem Buch ähnlich. Jedoch gebrauchen wir dieses Bild, denn mehr ist es nicht, hier nicht in einem ontologischen Sinn. Für uns verbirgt sich darin keine Seinsaussage über den Staat, sondern es ist nur ein Narrativ, das wir uns erzählen und das uns in methodischer Hinsicht helfen soll, über den Staat zu sprechen und uns über ihn zu verständigen. Denn wenn wir den Staat, worum es in diesem Buch geht, verstehen wollen, dann müssen wir ihn erzählen, weil wir nur das verstehen können, was wir zu erzählen vermögen. Also müssen wir den Staat in Geschichten verstricken, in denen er handelt, um ihn uns auf diese Weise vor Augen zu führen und uns zur Anschauung zu bringen. Sicherlich, das will ich gerne zugestehen, führt diese Methode leicht zu Irritationen und Missverständnissen. Deshalb habe ich beim Schreiben dieses Buches des Öfteren überlegt, die Sprache, in der hier über den Staat gesprochen wird, aufzugeben, um stattdessen andere Worte und Sätze für ihn zu finden und dadurch den Eindruck zu vermeiden, er sei ein mit einem eigenen Willen ausgestattetes Wesen, das sich erst im Wissen seiner selbst Gestalt geben würde. Aber ich habe dieser Versuchung nicht nachgegeben und nehme die Vergegenständlichung des Staates in der Sprache, die in diesem Buch geschieht, in Kauf. Ja, in gewisser Hinsicht erscheint sie mir inzwischen gar vorteilhaft, weil sie hilft, den Staat vor dem Verschwinden aus unserer Sprache und damit auch vor der Abschaffung in der Welt unserer Gedanken und Vorstellungen zu bewahren. Denn in der Wissenschaft findet sich ja seit geraumer Zeit die Neigung, das Reden über den Staat einzustellen. Dem liegt nicht allein die Schwierigkeit zugrunde, den Begriff Staat definieren zu müssen. Auch gab es sachliche Gründe, Veränderungen, die man glaubte, beobachten zu können und die dem Bestand von Staatlichkeit abträglich schienen. So schrieb Carl Schmitt bereits im Jahr 1963 in einem Vorwort zu Der Begriff des Politischen, dass das Politische in seiner Ausübung sich vom Staat lösen und stattdessen mit anderen Akteuren, er sprach vom "Partisan", verbinden würde und dadurch die "Epoche der Staatlichkeit" unwiderruflich zu Ende ginge (vgl. Münkler 2000: 55). Carl Schmitt verstand dies als einen "bedrohlichen Vorgang" (Münkler 2000: 55). Andere dagegen begrüßten ihn oder forderten ihn gar ein, weil sie den Staat und die staatliche Ordnungsmacht aufgrund ihrer politischen Gesinnung ablehnen, mitunter gar hassen. So erhielten die Zweifel am Staat wie an dessen Begriff aus ganz unterschiedlichen Quellen Nahrung, teils waren sie wissenschaftlicher, teils anderer Natur, weshalb die Soziologie des Staates vorübergehend Gefahr lief, dass ihr Gegenstand ihr abhanden kommen könne. Denn der Staat existiert in unserer Sprache. Erst die Sprache bewirkt, dass wir eine Wirklichkeit mit Anderen teilen und für "gewiss" halten (vgl. Berger/Luckmann 1980: 40). Somit verleiht erst die Sprache dem, was wir in unseren Gedanken und Vorstellungen mit Herrschaft, Autorität oder Souveränität und mit deren Organisation und Ausübung verbinden, Halt und Kohäsion und fügt es zu einem eigenen, für uns umgrenzten Gegenstand zusammen, den wir Staat nennen (vgl. Bratsis 2006: 16). Also gibt uns erst die Sprache die Gewissheit, dass ein Staat existiert. In gewisser Hinsicht ist es diese vorgestellte, "symbolische Präsenz", in der der Staat wie in einer Zusammenschau seine Bestätigung und dadurch sein Dasein findet (vgl....