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Erinnern, vergessen, umdeuten?

Europäische Frauenbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte und Geschlechter 73

Erschienen am 15.08.2019, 1. Auflage 2019
50,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593510330
Sprache: Deutsch
Umfang: 406 S.
Format (T/L/B): 2.7 x 21.5 x 14 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Die erste Frauenbewegung leitete wichtige Schritte zur Emanzipation in Europa ein, blieb aber nicht in der kulturellen Erinnerung verankert. Denn als sich die zweite Frauenbewegung in den 1970er- Jahren Gehör verschaffte, verstand sie sich weitgehend als neue Bewegung ohne eigenen Vorläufer. Der Band untersucht die Bilder der Geschichte, die die Frauenbewegungen entwickelten oder vernachlässigten, und die Traditionsverluste, die durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts verursacht wurden.

Autorenportrait

Angelika Schaser ist emeritierte Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Sylvia Schraut vertrat bis zu ihrer Emeritierung 2020 die Professur für Neuere Geschichte an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Petra Steymans- Kurz, Dr. phil., ist Fachbereichsleiterin an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Leseprobe

Einleitung: Die (fehlende) Historiographie zu den Frauenbewegungen in Europa Angelika Schaser/Sylvia Schraut Die Fragen, wie Geschichte überliefert wird, wer sie beschreibt und schreibt, die Entwicklung von historischen Narrativen und ihr Wandel beschäftigen die Geschichtswissenschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten in zunehmendem Maße. Es sind Problemstellungen, mit denen sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte als Gegenentwurf zur Mainstream-Geschichte seit ihrer Entfaltung in den 1970er/80er Jahren grundständig und grundlegend auseinandersetzen musste. Doch erst seit dem 21. Jahrhundert befasst sich die Frauenbewegungsgeschichtsschreibung auch mit den eigenen tradierten Narrativen zu ihrer Entstehungsgeschichte, mit Zuschreibungen von Bedeutung und Randständigkeit von historischen Flügeln der Bewegung. Lange Zeit sind insbesondere die Darstellungen zur Frauenbewegungsgeschichte aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Faktensammlungen genutzt und nicht auf ihre Struktur, Grundlagen und Erzählweisen hin befragt worden. Zwar ist verstärkt in den letzten Jahren eine Beschäftigung mit der bewegungseigenen Geschichtsschreibung zu beobachten, in der Diskussion über die alte Frauenbewegung in Europa lassen sich jedoch viele Forschungslücken aufzeigen. So wird zum Beispiel nach wie vor die Bedeutung von Religion und Konfession in ihrer Wirkungsmächtigkeit während des 19. Jahrhunderts marginalisiert. Noch immer fehlt es an Biografien von zeitgenössisch wichtigen Frauenrechtlerinnen, die in der frauenbewegten Mainstream-Geschichtsschreibung zur eigenen Bewegung vernachlässigt oder gar vergessen worden waren. Feststellbar ist beispielsweise auch noch immer die weitgehende Übernahme derjenigen geografischen Räume als Untersuchungsgegenstand, die die frühe Frauenbewegungsgeschichte bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als zentral begriff. Es fällt auf, dass die alten, zum großen Teil von Gertrud Bäumer und Helene Lange entworfenen Narrative der Geschichtsschreibung zur deutschen Frauenbewegung seit mehr als 100 Jahren einfach wiederholt werden, was die Themensetzungen und die Hervorhebung einzelner Personen und einzelner Vereine betrifft, ohne dass geprüft wird, ob neue Forschungsergebnisse nicht zur Revision des solchermaßen konstruierten Geschichtsbildes beitragen müssten. Überdies fehlt es weitgehend an transnationalen Vergleichen. Nicht nur in Deutschland, aber hier wohl besonders, lässt sich spätestens mit dem Entstehen der neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren ein Traditionsbruch beobachten. Offenbar konnten oder wollten sich die neuen Frauenrechtlerinnen und Frauengeschichtsschreiberinnen nicht auf ihre alten Vorläuferinnen beziehen. Die zahlreichen Aktivitäten und die umfassende Publikationstätigkeit der deutschen Frauenbewegung vor 1933 und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sind spät und nur sehr selektiv wahrgenommen worden. Hierfür dürften vielfältige Ursachen verantwortlich sein. So entstand die neue Frauenbewegung aus und in Abgrenzung zur Studentenbewegung. Die Feministinnen verpflichteten sich dezidiert auf neue Gesellschaftsentwürfe in Distanz einerseits von der vermuteten oder tatsächlichen nationalsozialistisch eingefärbten Weltanschauung der Elterngeneration, andererseits vom bürgerlichen Gesellschaftsentwurf. Diese Abgrenzung teilte die neue Frauenbewegung mit der Studentenbewegung. Und so muss es nicht wundern, dass erste Texte in den 1970er Jahren zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung eine direkte Verbindung vom Dachverband der alten Frauenbewegung (BDF) und den großen Frauenvereinen hin zum Nationalsozialismus und der NS-Frauenschaft zogen. Der oberflächliche Blick auf das, was nun - das klassenbezogene, von der alten Frauenbewegung aber auch als Selbstdefinition genutzte Urteil Clara Zetkins aufgreifend, - als 'bürgerliche Frauenbewegung' nicht mehr definiert, sondern diffamiert wurde, reichte soweit, dass Gertrud Bäumer, die 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von den Nationalsozialisten aus ihrem Amt entlassen wurde, in einem Text zur Nationalsozialistin avancierte, da der Autorin wohl der Unterschied zwischen dem nationalsozialen Verein Friedrich Naumanns und der NSDAP nicht geläufig war: Renate Wiggershaus stellte in ihrem Buch allen Ernstes die 'Nationalsozialistin Bäumer' unter der Überschrift 'Aktive Nationalsozialistinnen' vor. Auch wenn inzwischen Historikerinnen davor warnen, Quellenbegriffe wie bürgerliche, radikale und gemäßigte Frauenbewegung nicht mit Analysebegriffen zu verwechseln, werden solche Unterteilungen immer wieder gerne weitgehend unreflektiert reproduziert. Zwar sind in den letzten drei Jahrzehnten viele innovative Studien zu einzelnen Teilbereichen der alten Frauenbewegung auf nationaler Ebene und erste wegweisende Studien zur transnationalen Verflechtung der europäischen Frauenbewegungen erschienen, zum Beispiel zum Abolitionismus, zur Entfaltung des Wohlfahrtsstaats als Projekt der Frauenbewegung oder zu einzelnen Protagonistinnen der Bewegung, so bleibt doch festzuhalten, dass in der Gesamtschau alte Narrative redundant am Leben erhalten werden. Fortgeschrieben wird beispielsweise der längst widerlegte Mythos von der 'Rückständigkeit der deutschen Frauenbewegung'. Wenig hinterfragt bleiben einerseits die Marginalisierung der zeitgenössisch sich selbst als fortschrittlich begreifenden Frauenvereine seitens der BDF- und ADF-nahen Geschichtsschreiberinnen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Andererseits wurden die Zuschreibungen der neuen Frauenbewegung, die den radikalen und sozialistischen Frauenvereinen Modernität, den gemäßigten Vereinen Konservatismus zumindest implizit zuwiesen, großenteils übernommen. Aber auch die zeitgenössischen Urteile über die postulierte oder in Frage gestellte Zugehörigkeit von Frauenvereinen zur Frauenbewegung wurden und werden weiter tradiert und zementiert. Nach wie vor gilt es deshalb, die vielfältigen Aktivitäten und Verbindungen der Frauenbewegung(en) genauer zu untersuchen und dabei auch Veränderungen und Dynamiken in den Blick zu nehmen - eine Forderung, die Sylvia Paletschek und Bianka Pietrow-Ennker schon vor knapp 15 Jahren aufgestellt haben - und die Ergebnisse solcher Untersuchungen in die Geschichtsschreibung zu den europäischen Frauenbewegungen einzuspeisen. Zu fragen bleibt aber auch, warum die frühe bewegungseigene Geschichtsschreibung zumindest in Deutschland so aktiv betrieben wurde. Denn seit dem späten 19. Jahrhundert hat die Frauenbewegung viel Energie auf die Publikation von Frauen- und Frauenbewegungsgeschichte verwandt. Wie lässt sich das hohe Engagement frauenbewegter Autorinnen in Sachen eigener Geschichte erklären? Hier können Anleihen am intensiv debattierten und ausdifferenzierten Forschungsgebiet Erinnerungskultur hilfreich sein. Mit Gedächtnis und Erinnerung beschäftigen sich mehr oder weniger alle Kulturwissenschaften im interdisziplinären Verbund. Dabei sind Gedächtnis, kollektives, kommunikatives und kulturelles Gedächtnis, Tradition und Traditionsstiftung, Erinnerungskultur und -räume, Erinnerungspolitik und Vergessen keineswegs eindeutig definierte Begriffe. Sie werden von den jeweiligen Fachdisziplinen unterschiedlich genutzt. Hinter diesen Bezeichnungen verstecken sich eine Reihe kulturwissenschaftlicher Theorien, die sich jeweils auf ihre Weise mit der Frage auseinandersetzen, wie sich eine soziale Gemeinschaft an ihre Geschichte erinnert. Welche Funktionen eine öffentlich gepflegte Erinnerungskultur in einer Gesellschaft bzw. Erinnerungsgemeinschaft übernimmt, welche Formen des Erinnerns gepflegt werden oder welche Rolle Macht und gesellschaftliche Deutungshoheit für den Ein- oder Ausschluss aus dem kollektiven (Gruppen-)Gedächtnis spielen, lässt sich auch für die frühe bewegungseigene Frauengeschichtsschreibung überprüfen. Gemeinsam ist den heutigen Ansätzen, die in der frühen Gedächtnisforschung der 1920er Jahre wurzeln, der Blick auf die Konstrukti...

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