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Religion in der Moderne

Ein internationaler Vergleich, Religion und Moderne 1

Erschienen am 09.03.2022, 2. Auflage 2022
39,95 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593512112
Sprache: Deutsch
Umfang: 641 S.
Format (T/L/B): 4.3 x 23.5 x 16.6 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Sind Religion und Moderne vereinbar, führen Modernisierungsprozesse zur Säkularisierung? Oder hat die Religion selbst modernisierende Potenziale? Anhand ausgewählter Länder - darunter Deutschland, Italien, die Niederlande, Polen, Russland, USA, Südkorea und Brasilien - gehen Detlef Pollack und Gergely Rosta in dieser erweiterten und aktualisierten Ausgabe ihres Standardwerks dem Verhältnis von Modernisierung und religiösem Wandel im 20. und 21. Jahrhundert nach. Sie entwerfen Theorieperspektiven, die den Anspruch erheben, die Abschwächung religiöser Bindungen in der Moderne ebenso zu erklären wie ihre Stärkung.

Autorenportrait

Detlef Pollack ist Senior-Professor am Exzellenzcluster 'Religion und Politik' der Universität Münster. Gergely Rosta arbeitet als Associate Professor an der Katholischen Péter-Pázmány-Universität in Budapest.

Leseprobe

Einführung Joseph Story absolvierte die Harvard University als Zweitbester seines Jahrgangs. Mit 32 Jahren wurde er 1811 jüngster Richter aller Zeiten am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Er hielt es für seine Aufgabe, sich für die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz einzusetzen. Der junge Jurist war aber auch - ganz ein Mann seiner Zeit - ein glühender Verteidiger der Eigentumsrechte und als gebildeter Angehöriger der Oberschicht ein erfolgreicher Poet. Als Richter am Obersten Gerichtshof vertrat Joseph Story die Auffassung, dass es die erklärte Pflicht der Regierung sei, der göttlichen Offenbarung "unter den Bürgern des Staates Geltung zu verschaffen und Förderung angedeihen zu lassen" (Koppelman 2004: 641). Die christliche Religion dürfe bei der Auslegung der Gesetze durchaus herangezogen werden, denn alle Glaubensrichtungen seien christliche, womit er wohl meinte protestantische. Den Glauben an die künftigen Belohnungen und Bestrafungen hielt er für die staatliche Rechtsausübung geradezu für unent-behrlich. Die Trennung von Kirche und Staat war zwar im First Amendment der amerikanischen Verfassung festgeschrieben. Der Grundsatz, dass dem Christentum eine bevorzugte Stellung im gesellschaftlichen Leben der USA zukomme, konnte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den USA jedoch unumstrittene Geltung beanspruchen und wurde auch von Joseph Story trotz seines Einsatzes für die Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz nicht bezweifelt. Dieser Vorrang blieb dem Christentum in den USA bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erhalten. Noch 1892 stellte das Oberste Bundesgericht in einem einstimmigen Urteil fest: dass man "im amerikanischen Leben, wie es sich in seinen Gesetzen, seiner Wirtschaft, seinen Sitten und seiner Gesellschaft bekundet, ein und dieselbe Wahrheit anerkannt findet, dass dies eine christliche Nation ist" (Church of the Holy Trinity vs. United States). Heute wäre kein Richter des Obersten Gerichtshofes mehr bereit, dem Christentum oder gar dem Protestantismus eine solche Vorzugsstellung ein-zuräumen. Den Hinweis auf die christlich inspirierte Gesetzesauslegung des Joseph Story und die noch Ende des 19. Jahrhunderts durch das Oberste Bundesgericht festgeschriebene Bevorzugung des Christentums hätte man wohl noch vor kurzem als ein untrügliches Zeichen dafür genommen, wie stark sich die religiöse Landschaft in den USA in den letzten zwei Jahrhunderten geändert hat. Man hätte in den eingetretenen Veränderungen nicht nur eine Manifestation der religiösen Pluralisierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts gesehen, als der Protestantismus noch das geistige Fundament der öffentlichen Diskurse in den USA bildete, sondern den religiösen Wandel der letzten 200 Jahre wohl auch als den klaren Ausweis ei-ner die Öffentlichkeit ebenso wie das Recht und die Politik umfassenden Säkularisierung interpretiert. Von Säkularisierung wollen gegenwärtig allerdings nur noch wenige sprechen. Konfrontiert mit den klaren Zeichen einer die letzten zwei Jahrhunderte umfassenden rechtlichen Deprivilegierung des Christentums in den USA würden die meisten Religions- und Sozialwissenschaftler heute wohl nach Gegenbeispielen Ausschau halten und versuchen, vielleicht durch Verweis auf die Zunahme des Kirchenmitgliederbestands seit der amerikanischen Revolution, auf die geistlichen Impulse der Erweckungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, auf den politischen Erfolg der Moral Majority oder auch auf die hohe mediale Präsenz charismatischer Fernsehprediger, die Meistererzählung vom Bedeutungsrück-gang der Religion in der Moderne zu erschüttern. Die Infragestellung der Sä-kularisierungstheorie ist zu einer beliebten rhetorischen Übung geworden, und viele beziehen sich auf sie nur noch wie auf einen toten Hund (Stark 1999: 273; Miller/Yamamori 2007: 38; Pfleiderer/Heit 2013). Die Kritik am Säkularisierungstheorem betrifft einmal die in ihm vorgenommene Entgegensetzung von Religion und Moderne bzw. von Tradition und Moderne, dann aber auch ihren evolutionären, fortschrittsgläubigen und eurozentrischen Charakter insgesamt. Besonders richtet sie sich gegen die Behauptung, dass Modernisierung unweigerlich zur Säkularisierung führe und Religion durch die Konsequenzen von Rationalisierung, Technisierung und funktionaler Differenzierung, durch Anhebung des Wohlstandsniveaus, Bildungsanstieg und Urbanisierung negativ betroffen sei. Kritik wird aber auch an der Verwendung eines institutionell verengten Religionsbegriffes, am Gebrauch eines homogenisierten Mo-dernebegriffs, an der Depotenzierung von Religion als bloßer abhängiger Va-riable sowie an der Idealisierung der Vergangenheit als "golden age of faith" geübt (Warner 1993; Casanova 1994; Berger 1999; Stark/Finke 2000; Graf 2004; Beck 2008; Hellemans 2010). Wer der Ablehnung der Säkularisierungstheorie empirische Daten entgegensetzt, die Tendenzen der Säkularisierung in modernen Gesellschaften zweifelsfrei belegen, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er habe sich zu stark auf Indikatoren institutionalisierter Religiosität konzentriert. Im Zeitalter der Individualisierung lasse sich religiöser Wandel nicht mehr an konfessioneller Zugehörigkeit oder Kirchgang messen (Luckmann 1991; Harskamp 2005; Kennedy 2005; Knippenberg 2008; Knoblauch 2009: 17). Notwendig sei es vielmehr, auch Formen subjektiver Religiosität sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken. Wer daraufhin auch den Glauben an Gott oder die religiöse Selbsteinschätzung als Indikatoren religiösen Wandels heranzieht und zeigt, dass diese Variablen bei einer langfristigen Betrachtung gleichfalls von Erosionstendenzen betroffen sind und - nebenbei bemerkt - zudem in einem statistisch nachweisbaren positiven Zu-sammenhang mit dem Kirchgang stehen, bekommt zu hören, dass Religion nach dem Niedergang des positivistischen Wissenschaftsverständnisses nicht mehr mithilfe standardisierter Methoden erfasst werden könne, sondern dass es dafür einer hermeneutischen und diskursanalytischen Herangehensweise bedürfe (Großbölting/Große Kracht 2010: 340). Waren es zunächst die falschen Daten, die Stirnrunzeln provozierten, so erregt nun schon die Tatsache Missbehagen, dass man überhaupt mit Daten arbeitet. Wer dann darauf verweist, dass sich Veränderungen im Zeitverlauf nicht feststellen ließen, wenn der Maßstab der Beurteilung nicht konstant gehalten werde, und dass die Messgrößen daher standardisiert zu sein hätten, der muss mit blanker Verachtung rechnen. Nach dem Ende der großen Erzählungen könne keine Metatheorie mehr universalistische Geltungsansprüche erheben, auch die Säkularisierungstheorie nicht. Diese sei allenfalls noch als Ausdruck des Selbstverständnisses der Epoche von Bedeutung, deren Entstehung sie sich verdanke, habe uns aber materialiter nichts mehr zu sagen (Asad 2003; Graf 2004: 96f.; Borutta 2005: 16; 2010: 347; Knöbl 2013: 78ff., 111). Vergeblich der Hinweis darauf, dass zwischen dem Entstehungskontext einer Aussage und ihrem Geltungsgrund zu unterscheiden sei. Töricht das Unterfangen, die Kritiker der Säkularisierungstheorie davon überzeugen zu wollen, sie hätten sich mit ihrer grundsätzlichen Abkehr von der Säkularisierungstheorie selbst in eine Meistererzählung verstrickt (so auch Ziemann 2009: 32; Haustein 2011a: 552). Die Kritiker der Säkularisierungstheorie lassen sich nicht irritieren. In selbst-gewissem Ton verkünden sie die Wiederkehr der Religion oder das Zeit-alter des Post-Säkularismus und setzen an die Stelle von Konvergenz- und Linearitätsannahmen Vorstellungen der historischen Kontingenz der Moderne oder behaupten die Kompatibilität der Religion mit der Moderne. Ihnen ist klar, was sie ein für alle Mal hinter sich lassen wollen. Nichts kann sie von ihrer entschiedenen Abkehr von Großtheorien, wie sie Modernisierungs- und Säkularisierungstheorien nun einmal darstellen, abhalten. Gegenüber dieser entschlossenen Geste der Verabschiedung möchten die hier vorgelegten Analysen zwei Fragen offen halten: Wissen wir w...

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