Beschreibung
"War ein eher ruhiger Tag: 68 Mails im Eingang, 45 geschrieben. Ich mach den Rechner aus, zieh meine Jacke an, stell mich in den Aufzug und denke: "Harakiri. Gute Nacht, du schöne Welt.""Alex Rühle ist ein erfolgreicher Journalist, er kommt ganz schön rum, ist glücklich verheiratet und hat zwei Kinder und er ist süchtig. Er ist ein Internet-Junkie. Kein Extremfall, nicht mal die Ausnahme. Er ist gerade so abhängig wie Sie und ich es sind, nur dass wir es nicht immer wissen. Doch Alex Rühle weiß es und macht Ernst: Ein halbes Jahr wird digital gefastet, und das Leben als Journalist und Vater muss offline weitergehen. Dabei ist das Porträt einer Zeit entstanden, in der alles immer schneller geht und man doch keine Zeit hat, und in der das Allein-Sein zur Tortur geworden ist."Alles abschalten! Dieses kluge und lustige Buch lesen! Danach weiß man, welches Netz man im Leben wirklich braucht."Doris Dörrie
Autorenportrait
Alex Rühle, lebte vierzig Jahre vor sich hin, ohne je irgendeiner lebenszerrüttenden Sucht zu verfallen: Er studierte Literaturwissenschaften, hat zwei Kinder, fährt viel Fahrrad und ist seit neun Jahren Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.Doch dann kam der Blackberry ...
Leseprobe
30. November - Der Tag davor Mittags, auf dem Weg in die Kantine, bitte ich Christopher und Bernd, mit mir einen Umweg zu machen, bei den Jungs von der IT vorbei, im zweiten Stock. Ich will die beiden als Zeugen dabeihaben, glaubt mir ja sonst keiner. Der Sachbearbeiter, der mir das Gerät vor etwa einem Jahr ausgehändigt hat, fragt zuerst, ob das ein Scherz sein soll. - Nein, ich will nur, dass Sie das Ding in Verwahrung nehmen. Am 31. Mai komme ich und hol's mir wieder ab.- Aber warum denn nur?- Ich geh ein halbes Jahr offline.- Da können Sie den Blackberry doch auch zu Hause in eine Schublade stecken. Ebenso gut könnte ein Dealer seinem Kunden sagen, um clean zu werden reiche es, das Crack auf den Schrank zu legen, außer Sichtweite, vielleicht noch unter einer Kaufhoftüte verstecken, dann werde das schon klappen mit ein bisschen gutem Willen. So etwas klappt nicht. Jedenfalls nicht bei einem wie mir. Ich halte dem Mann stumm meinen Blackberry hin. Er sieht mich regungslos an und verschränkt die Arme. Die anderen Mitarbeiter im Büro sind mittlerweile verstummt und schauen uns bei unserem merkwürdigen Duell zu, Christopher und Bernd stehen feixend in der Tür, Bernd sagt: »Der meint's ernst.« Da werden die Fragen sorgenvoller: Ob mit mir alles in Ordnung sei, ob ich irgendwelche Probleme hätte. »Ja, hab ich, deswegen sollen Sie das Ding ja zurücknehmen.« Da steckt er den Blackberry achselzuckend in die oberste Schublade seines Schreibtischs und sagt: »Sie kommen doch eh nachher ohne Ihre Freunde zurück und holen ihn sich heimlich wieder.« Als ich dann nach dem Kantinenbesuch beim IT-Support anrufe, versteht die Mitarbeiterin erstmal gar nicht, was ich will. Ob denn irgendwas nicht stimme mit meinem Internet. »Doch, alles wunderbar und makellos, ich will's bloß mal ein halbes Jahr los sein.« Da war Stille in der Leitung. »Hallo? Sind Sie noch dran?« »Ja. Schon. Ich weiß bloß gar nicht - ... Ist das denn erlaubt?« Erst als ich der Frau mehrfach versichere, dass das wirklich abgesprochen sei, mit der Chefredaktion und mit der Ressortleitung, verspricht sie mir, heute abend, um 22.30 Uhr, bevor der Letzte aus ihrer Abteilung geht, Mozilla Firefox, Skype, Lotus Notes und den Internet Explorer von meinem Rechner zu schmeißen. Nach diesem Anruf werde ich plötzlich unsagbar nervös, Übersprunghandlungen allerorten, ich schreib nochmal wie besessen E-Mails und ziehe mir panisch Zeug aus dem Netz, für die Zeitungsthemen der nächsten Wochen, aber auch für dieses Buch, wer weiß, vielleicht finde ich ja noch gute Texte über digitale Sucht, Beschleunigung, Überforderung. Oder umgekehrt eine weitere geistreiche Lobpreisung der Allzeitvernetzung und Intelligenz des Internets. Noch vor einer halben Stunde fühlte sich das Ganze an,als würde ich heimlich auf Abenteuerurlaub fahren. Jetzt ist es plötzlich, als würde ich für eine gnadenlose Arktisexpedition packen, ein Fehler, Greenhorn, und Du verreckst elendig zwischen Eisschollen ... 1. Tag - Höhlenmensch auf Arbeit Als ich im Büro den Rechner starte, klaffen auf dem Desktop drei Löcher, da, wo die Icons für Firefox, Internet Explorer und Skype standen, ist nichts mehr. In Down by Law von Jim Jarmusch gibt es diese Szene, in der Roberto Benigni, Tom Waits und John Lurie in einer Gefängniszelle sitzen. Benigni, der in dem Film nicht besonders gut Englisch kann, malt mit dünner Kreide ein Fenster an die graue Zellenwand und fragt: »Zack, Jack, is it I look at the window or I look out the window?« Lurie knurrt: »In this case I'm afraid it's I look at the window.« Jetzt, da ich nur noch auf Windows schauen kann, auf dieses eine Dokument, kommt es mir so vor, als habe bis gestern direkt hinter der Benutzeroberfläche eine endlose, cinemascopisch schöne Weite gelegen, in die man jederzeit hineinspazieren konnte, um sich darin zu verlieren, die Great Plains des Netzes. Jetzt hingegen ist da nur die gnadenlos glatte, weiße Fläche, ein Blatt, das mich anstrahlt und vor dessen Leere ich mich nirgends hinflüchten kann. Viele Kollegen machen Höhlenmenschenwitze über mich. Das Funkeln des pointengewissen Witzbolds in den Augen,fragt wirklich fast jeder beinhart dasselbe. Ob ich denn jetzt meine Wohnung noch heize. Ob ich ab sofort meine Mails mit dem Toaster schicke. Ob ich noch mit der elektronischen Karte in der Kantine bezahle oder hinterm Hochhaus Gemüse anbaue. Ob ich mich noch rasiere. Ob ich noch Aufzug fahre oder in Zukunft immer zu Fuß in den 19. Stock hoch laufe. Ob ich meine Texte jetzt handschriftlich verfasse. Nach dem sechsten Witz dieser Art habe ich Lust, all das wirklich zu tun, dann lauf ich halt in Gottes Namen mit rauschendem Vollbart und meiner Gemüsekiste allein die Treppen hoch in den 19. Stock, aber muss mir wenigstens diese Sprüche nicht mehr anhören.Leute,ich leb weiterhin in einer beheizten Wohnung, habe ein Telefon, einen Kühlschrank und einen Fernseher,den ich freilich seit einigen Jahren kaum noch anmache,weil mein Leben größtenteils im Netz stattfindet.Pardon: stattfand.Jetzt,ohne Netz,kann ich da ja mal wieder reinschauen und kucken,was ARD und ZDF so treiben mit meinen GEZ-Gebühren.Mir schwant Übles.Ich hab auch meinen Apple noch,auf dem ich diese Zeilen schreibe, nur benutze ich ihn eben die nächsten Monate wie eine Schreibmaschine. Ich mache all das nicht, weil ich das Internet doof finde. Im Gegenteil, ich verbringe darin den Großteil meiner wachen Zeit, weil ich es großartig finde, ein riesiges Versprechen, und es geht ja alles gerade erst richtig los. Allein schon die Homepage der New York Times kommt mir vor wie der Eingang in ein Bergwerk voller Goldadern: Egal in welchen Text man klickt, dahinter tun sich unendliche Verbindungsstollen voller funkelnder Nuggets auf. Jeden Tag finde ich auf Arts and Letters Daily fantastische Sachen. Ich prangere die Monsterkrake Google natürlich aufs schärfste dafür an, eine solche Monsterkrake zu sein, noch dazu so eine verlogene, »Don't be evil« ist nun wirklich das ekligste aller Firmenmottos, aber bin ihr gleichzeitig dankbar dafür, dass sie die ganze Welt für mich ordnet. Ich war seit Jahren in keiner Bibliothek, man findet ja mittlerweile so gut wie alles im Netz. Weihnachten ohne Amazon-Bestellungen wird sicher mühsam. Und mir graut schon vor Recherchen aller Art. Kurzum: Das Netz sei mit Geschmeiden behängt und mit Ölen gesalbt, es möge ihm wohl ergehen immerdar, der Herr lasse leuchten sein Angesicht über ihm und gebe ihm Frieden. Ich habe aber das Gefühl, dass ich mir darin selbst abhanden komme. Dass es mich schluckt. Mein Kopf gleicht abends, wenn ich von der Arbeit heimradel, oft einem neuronalen Flipperautomaten, dessen Drähte nach der Arbeit noch stundenlang im Dunkel nachglühen. Im Nachhinein kommen mir solche Tage vor, als hätte ich in der staubtrockenen Luft eines Kopierladens fortwährend nur leere Blätter in die Luft geworfen, bleiche, zerfaserte Zeit. Als würde da einer hinter meinem Rücken, während ich in den Bildschirm starre, mit dem Tintenkiller über den Tag drübergehen: Kaum vergangen, ist alles wieder verblasst. Vladimir Nabokov schreibt, Erinnerung sei »der lange Sonnenuntergangsschatten der Wahrheit«. Was für ein wunderbares Bild. Das aber von sehr ruhigen, natürlichen Zyklen ausgeht, einem Baum in der Sonne, dessen Schatten am Endes eines langen Sommertages unmerklich länger wird, bis sich irgendwann die Nacht des alles nivellierenden Vergessens wie ein Tuch über die Welt legt. Ich konnte mich nach einem Arbeitstag, wenn ich im Dunkel heimfuhr, oftmals an nichts erinnern. Und ich konnte mich während des Tages manchmal nicht mal mehr erinnern, was ich zwei Minuten vorher getan hatte. Als verschwinde die Zeit direkt hinter mir in einem riesigen Hecksler. Andererseits war das früher anscheinend auch nicht groß anders. Aus meinem Tagebuch von 1996, geschrieben während der Magisterzeit: »Oft kommt mir die Gegenwart vor, als stünde ich irgendwo im unermesslichen Watt und hielte eine Schnur in der Hand, die direkt hinter und vor mir spurlos im Matsch verschwindet. Wo kommt diese Schnur nur her? Wo geht sie hin? Und was mache ich überhaupt hier draußen?« Ich frage mich also, wieviel mein Unbehagen mit dem Netz zu tun hat. Wieviel mit mir und meiner inneren Unruhe, schließlich habe ich Freunde, die mindestens genauso viel im Netz unterwegs sind wie ich, und trotzdem den Eindruck vermitteln, geerdet und genordet durch ein ruhiges, gesättigtes Leben zu laufen. Mein Alltag hingegen ist schon ohne Netz ziemlich zerschreddert, in der Arbeit gibt es Konferenzen, wir müssen Texte bestellen und redigieren, telefonieren, lesen und sollen währenddessen selber lesbares Zeug schreiben. Und dann will ich ja auch noch Vater und Ehemann sein, Zeit verbringen mit meinen Kindern und meiner Frau. Und nebenher irgendwie in mir ruhen und selbst erfüllt leben. Der Physiker Alan Lightman schreibt in einem Aufsatz mit dem Titel »The World is too much with me«, er habe unter dem konstant zunehmenden Druck der Arbeits - und Alltagswelt über die Jahre hinweg seine Tage in immer kleinere »Effizienzeinheiten« aufgeteilt und durch diese flirrende, zerhackte Aufmerksamkeit alle Fähigkeit zu träumen, Fragen zu stellen, Dinge zu erkunden und insgesamt eine innere Welt zu nähren verloren. Das liegt in seinen Augen aber nicht am Internet, sondern am generell anwachsenden Druck. Ich bin gespannt, ob ich während meines Fastens herausbekomme, wieviel das Gefühl des Sichselbstabhandenkommens mit der allumfassenden Beschleunigung unserer Lebenszusammenhänge zu tun hat und wieviel tatsächlich mit der Rundumvernetzung? Der zweite Grund für dieses Experiment ist der ideologisch aufgeheizte Streit ums Netz. Beeindruckend, wie alle immer Bescheid wissen und Recht haben. Woher wissen die das alle nur immer so genau? Der Geschichtswissenschaftler Reinhard Koselleck fand bei seiner Analyse historischer Vorhersagen heraus, dass sich Prognosen für nie dagewesene Ereignisse in den allermeisten Fällen als falsch erweisen. Klingt plausibel, schließlich macht man Prognosen anhand von Parametern und Erfahrungswerten, die durch das Niedagewesene, das man einordnen möchte, hinfällig werden. Das aber schert die schimpfenden Kulturkritiker genauso wenig wie die heilsgewissen Schwärmer: Wir gehen zugrunde am Netz, Entropie total, das kollektive Gedächtnis erlischt, das Internet grillt unser Hirn zu Neuronenbrei, in wenigen Jahren werden wir eine Gesellschaft funktionaler Analphabeten sein! Aber nein, im Gegenteil, ein fantastisches Zeitalter bricht an, alles ist erleuchtet, das Netz bringt uns ganz neues Denken bei, hoch lebe die Schwarmintelligenz, man hat im limbischen System kalifornischer Facebookuser neue Präsynapsen entdeckt, die das Multitasking erleichtern, wir werden schneller, leichter, heller und gehen bald schon gemeinsam in die große digitale Wolke ein, die für uns alle denkt, fühlt und träumt. Nordkoreanischer Jubel. Ich will einfach wissen, wie es ohne ist, gerade weil ich mir ein Leben ohne Netz schlichtweg nicht mehr vorstellen kann. Die Welt wird eine Google, das Netz dringt wie Wasser in alle Lebensbereiche ein (weshalb es auch so elend lächerlich ist, diese Neuerung mit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks oder mit dem Telefon zu vergleichen). Ja, es gehört für die, die drin sind, so selbstverständlich zum Lebenshintergrund wie die Schwerkraft oder die Luft zum Atmen. Da ist es doch mal interessant, sich für eine Weile danebenzustellen und zu schauen, was das für Konsequenzen hat. Werde ich selber ruhiger dadurch oder, im Gegenteil, unruhiger? Erholt sich mein Gedächtnis oder hat meine phänomenale Schussligkeit gar nichts mit dem Leben am Computer zu tun? Bin ich tatsächlich süchtig und tue mir dementsprechend schwer mit dem Entzug oder schreite ich nach drei Tagen munter in mein analoges Leben aus und sage achselzuckend, das ganze Sucht-Gerede war doch wieder nur unbedachte Journalistenmetaphorik? Ist überhaupt ein Leben ohne Netz noch möglich, ohne aus allen Bezügen zu fallen? Dass ich nebenbei wenigstens mal ein halbes Jahr lang keine digitalen Spuren hinterlasse, soll mir nur Recht sein, wird aber kaum Thema meines Buches werden, da haben andere schon oft genug drauf hingewiesen. Und zuletzt noch dieser Satz: »Ich verlange ja gar nicht, dass man das überall macht, aber vielleicht erlaubt man uns, dass wir wenigstens in einem einzigen Haus das elektrische Licht löschen und mal schauen, was dabei herauskommt.« Das sind die letzten Worte aus »Lob des Schattens«, einem Buch des Japaners Tanizaki Junichiro. Darin steht übrigens auch der wunderbare Satz: »Alles, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens.« 5. Tag - Offline ist doch auch super Ich rufe abends die 11 8 33 an, um die Adresse des Klett-Cotta-Verlags zu erfragen und führe mit der Sachbearbeiterin zunächst ein erfrischend absurdes Gespräch. Die Frau sagt, sie finde nur einen Klett-Verlag, aber keinen Cotter. - Sie meinen doch Cotter mit er wie sie? - Wieso sie? In sie ist doch gar kein r? - Nein, er. Er. Sie. Es. Cott-ER. - Ah. Ne, mit a.- Ah.- Genau, mit a.- Nein, ich meinte ah wie aha.- Ah.- Genau. Den Cotta mit a gibt's nicht. Mann, Leute, Gnade, zehn Sekunden googeln und ich hätte die Anschrift. Der Klett-Cotta-Verlag ist doch keine kasachische Briefkastenfirma, und soweit ich weiß, sitzen die auch nicht irgendwo hinterm Stuttgarter Stadtrand, versteckt im Industriegebiet, das muss doch zu finden sein. Ich nuschel irgendeine Dankesformel, lege auf und versuchs noch mal. Auch diese Sachbearbeiterin ist freundlich und bemüht, findet aber den Verlag nicht. Schließlich fragt sie, ob sie mich durchstellen soll zu den Kollegen von der Serviceabteilung. Na, warum nicht. Dort findet eine Frau die Adresse innerhalb weniger Sekunden. Ich bedanke mich und frage vor dem Auflegen, worin denn der zusätzliche Service der Serviceabteilung liege. »Wir benutzen Google.« Ich wollte die Adresse, um meinem Verleger Tom Kraushaar diese Postkarte von einem indischen Beamten zu schicken. [Foto] Weil ich mich genauso fühle. Allein. Nutzlos. Isoliert. Und so dermaßen analog wie in einem Dritte-Welt-Büro, das eher einer Klosterzelle gleicht als einem Büro. Kein Schwein mailt mich an. Okay, daran bin ich selber schuld. Aber auch das Fax steht still und schweiget. Briefkasten ja sowieso. Das hat was von Isolationshaft. Wo sind denn die alle nur? Im Netz? Alle zusammen? Ohne mich? Wahrscheinlich. Das Netz schläft nie, es macht nicht Mittag, geht nicht in Urlaub, ist immer kerngesund und putzmunter, und ich sitz hier im müden Nachmittagsblues, mit beginnendem Schnupfen und schau durch die Doppelverglasung ins Dezembergrau. Hier liegt nur eine Zeitung von gestern rum, und in der steht drin, dass Jonathan Franzen in Tübingen als Gastdozet aufgetreten ist. Er hat dort gesagt, Literatur sei immer ein einsames Geschäft, und es sei ihre Aufgabe, »den Blick auf die Welt zu beruhigen«. Wie wunderbar. Genau das soll mein einsames Experiment doch auch! Jonathan, hörst Du mich? Nichts. Keine Antwort. Mich hört sowieso keiner mehr. [...] 8. Tag - Die analoge Ente Oh Mann. Muss dieses Experiment ausgerechnet im Dezember anfangen. Was für ein krasser Monat. Das Tageslicht sagt jeden Nachmittag um vier, kommt mal ruhig ohne mich aus. Das Klima sagt: So wäre euer Leben, wenn ich euch die Temperaturen auf Dauer entzöge. Die Vögel sagen gar nichts mehr, sondern fallen als Amseleis von den Bäumen. Und ich radel frühmorgens im nadelkalten Schneeregen durchs analoge Zwielicht zur Tagung der rumäniendeutschen Schriftsteller. Das Wasser läuft mir vom Helm in den Nacken und von der Regenhose in die Stiefel, aber das ist immer noch besser als im vermieften, vollen Bus zu hocken. Auf der Isarbrücke am Gasteig bleibe ich stehen, um meine Hose über die Stiefel zu ziehen. Dabei sehe ich unten auf der Kiesbank eine Ente, die sich in einem Draht verfangen zu haben scheint. Ich schaue ihr eine Minute dabei zu, wie sie schimpfend und fluchend ihr Bein streckt, aber nicht von der Stelle kommt. Dann stelle ich das Rad ab und gehe runter an den Fluss. Als die Ente mich sieht, wird sie merkwürdigerweise ganz ruhig und schaut mich an, als erwarte sie, dass ich ihr helfe. Sie erinnert mich mit ihrem beleidigt zusammengepressten Schnabel und dem schmalen Gesicht an Sandra Bullock. Wobei sie ein er ist, flaschengrünes, fast schwarzes Kopfgefieder, das im Regen ölig schimmert. Sie hat sich in einem verbogenen rostigen Draht verheddert. Der Draht kommt aus einem Betonklotz, der im flachen Wasser liegt und er ist so eng um das dünne Bein gelegt, dass ich gar nicht verstehe, wie sie da reingekommen ist. Die Ente schimpft, schaut beleidigt weg und zerrt dann wieder an ihrem Bein. Sauerei, das. Ich bücke mich, gehe näher und rede währenddessen leise auf sie ein. Als ich vorsichtig den Draht und ihr knorpeliges Bein berühre, bewegt sie sich nicht, dreht aber ihren Kopf ostentativ um 180 Grad weg. Ich muss an ein Kind denken, das beim Arzt eine Spritze bekommt und tapfer zur Decke kuckt. Ich habe den Draht kaum aufgebogen, da wendet sie ruckartig den Hals nach vorne und flattert aufgeregt schimpfend über die Kiesbank und das Wasser in Richtung Deutsches Museum davon. Als ich wieder hochgehe zu meinem Fahrrad, frage ich mich, ob das ein erstes Anzeichen dafür war, dass mein analoges Leben plötzlich wieder prall gefüllt ist. Eine Viertelstunde später sitze ich in einer deprimierenden Mehrzweckhalle im Sudetendeutschen Haus in München und höre rumäniendeutschen Schriftstellern zu, die über ihre Securitateakten sprechen. Die Tagung ist für die daran Beteiligten sehr dramatisch, in Rumänien werden gerade erst die Archive geöffnet und die meisten Redner haben erst vor kurzem erfahren, welche Bekannte oder gar Verwandten sie jahrelang bespitzelt haben. Sie zittern während ihrer Vorträge, einige scheinen noch ratlos zwischen den Papieren zu sitzen und auf ihr Leben zu schauen wie auf einen Haufen loser und plötzlich unentzifferbarer Blätter. Ein dünner Mann mit steingrauer Haut verliest mit hochgezogenen Schultern eine Art Schuldbekenntnis, andere prangern wütend an, es ist wie bei uns um 1991, als die Ostdeutschen ihre Akten erstmals einsehen konnten und plötzlich Hel-den zu Schurken wurden. Durch die Berichte zeichnet sich das Bild eines abgeschotteten, dunklen Landes durch, ein Lager in Europa, hoffnungslos abgehängt, der einsame Patient. In der Mittagspause suche ich eine Telefonzelle und muss dafür im Dezemberniesel bis an die Isar runter laufen, zum Kino Museum Lichtspiele. Ich bitte Cornelius Esau im Archiv, mir Hintergrundmaterial zu suchen zu der Tagung. Dass ich das Archiv bemühe, ist kein Trick, um das Internetfasten zu umgehen, ich lasse mir bei den meisten Themen, über die ich schreibe, von unseren fabelhaften Archivaren ein Dossier zusammenstellen. Der einzige Unterschied ist, dass ich die Sachen diesmal nicht auf meinen Rechner geschickt bekomme, sondern später an den Stadtrand radeln und sie mir holen muss, wenn ich sie heute noch lesen will. Während ich im eisigen Nieselregen laut in den Hörer spreche, um den Autolärm zu übertönen, fällt mir ein, dass die Polizei in einigen Städten jugendlichen Intensivtätern mittlerweile den Führerschein abnimmt. Die Polizei argumentiert, der herkömmliche Strafenkatalog würde bei vielen keine abschreckende Wirkung mehr entfalten. Führerschein und Auto hingegen seien wichtige Statussymbole. Wenn ihnen beides abgenommen werde, bedeute das einen erheblichen Prestigeverlust. Ich stehe im Hundepissedunst, starre auf ein hässliches »Fuck«-Tag an einem Stromkasten und frage mich, ob man hierzulande noch nie darüber nachgedacht hat, Leuten als drakonischste aller Strafen das Handy wegzunehmen. Prestigetechnisch ist die Situation, in der ich mich gerade befinde, recht weit unten anzusiedeln. Selbst die härtesten Verbrecher, die bei der Urteilsverkündung hinter ihrer Gesichtskulisse schon ein Verachtungslächeln bereit halten, zwölf Jahre, was solls, mach ich eben aus dem Knast raus meine Geschäfte - selbst solche Pitbulls würden wahrscheinlich zu reumütigen Winslern schrumpfen, wenn sie erführen, dass ihr Handy kassiert oder ihr Internetzugang gesperrt wird. Während ich das denke, stelle ich etwas sehr Merkwürdiges, scheinbar Widersprüchliches fest: Der Blackberry fehlt mir in dem Moment nicht. Überhaupt nicht. Ich starre auf das Ufer, an dem ich vor ein paar Stunden den Wendehals aus dem Draht befreit habe und denke: »Jetzt müsste er dir doch fehlen.« Tut er aber nicht. Es ist okay so wie es ist. Völlig konsterniert gehe ich zurück zur Tagung und hör mir weitere drei Stunden ungeordnete Leidensberichte der Securitateüberlebenden an. [...] 20. Tag - Alles hat keine Zeit Der Medienredakteur Marc-Felix Serrao kommt vorbei und bringt mir einen Ausdruck von Markus Albers, der darüber bloggt, dass er in seinem zweiwöchigen Toscanaurlaub unfreiwillig auf Entzug war, weil es kein Netz gab. »Hier«, sagt Felix, »ein Kollege von dir. Aber der hat nach zwei Wochen zurückgefunden ins normale Leben.« Albers benutzt das Bild vom Entzug, genau wie ich, nur dass es bei ihm anscheinend sehr viel schneller ging mit der Heilung. »Es hatte etwas von kaltem Entzug in vier Stufen. Ich war erst ungläubig, dann unruhig, schließlich unleidlich. Und, oh Wunder, eines Morgens plötzlich clean. Ich akzeptierte das Offline-Sein, stellte den Frühstückstisch in die Sonne, streichelte den Hofhund und kochte Kaffe. Wir lasen den ganzen Tag Bücher und gingen abends Pasta essen.« Meine Güte, klingt das bei mir auch so nach Werbefilm und ganzheitlichem Instantglück? Der Mann war zwei Wochen im Urlaub und schon ist alles gut? Ich esse zwar auch Pasta, aber in der Kantine. Der Kaffee kommt röchelnd aus einem ekelhaften Automaten und von tiefkonzentriertem Bücherlesen mit Hofhund bisher keine Spur. Der letzte Absatz ist ziemlich unfair, Albers' Text ist ein sympathischer Blogeintrag und vor allem tut der Mann am Ende auch gar nicht so, als habe diese Auszeit sein ganzes Leben verändert. Im Gegenteil, er schreibt, dass er, kaum aus dem Urlaub zurück, sofort wieder anfing mit seinem Suchtverhalten, permanent Mails checkte und sich beim Essen mit Freunden »bei der zeitgenössischsten und zugleich erniedrigendsten aller Kulturtechniken ertappte: Dem Vorwand aufs Klo zu gehen, um dort heimlich E-Mails zu checken. Und kurz Twitter. Und vorm Rausgehen noch schnell den Feedreader.« Also nochmals Entschuldigung für die Breitseite. Dass ich so gereizt reagiere, hat mit etwas Anderem zu tun: Einer der größten Fehler im kritischen Reden übers Netz ist, dass man es oft isoliert betrachtet. So als müsse man nur mal fünf Tage ausschalten und schon stehe man näher am Urgrund des Seins und lausche dem Leben all seine Geheimnisse ab. So als sei das Netz an allem schuld. Und als sei man selber ja nur ein wenig undiszipliniert, müsse sich nur mal am Riemen reißen und abschalten, schon sei das Leben ein Ballsaal funkelnden Glücks. Klar, das Netz beschleunigt und lenkt ab. Aber alles andere beschleunigt ja auch. Der berufliche Alltag eines durchschnittlichen Menschen ist eben genau das Gegenteil eines sinngesättigten Toscananachmittags mit abendlichem Goldrand, man hangelt sich so durch, hat psychische Atemnot, weil man Zeit grundsätzlich als Countdown und sich selbst als Mangelware und Auslaufmodell erlebt. Das Netz hilft einem da ja auch, Schritt zu halten mit den Anderen. [...] Der japanische Maler On Kawara malt seit vielen Jahren jeden Tag ein Datumsbild. Jedes gemalte Datum entspricht genau dem Tag, an dem es entsteht. So bekommt dieser Tag einen klaren Rahmen, einen Ausdruck, wird in eine Reihe gestellt und dadurch zu einer immergleichen und doch jedes Mal abgewandelten Harmonieformel. Da leuchtet ein Zeitbegriff auf, wie ihn der Prediger Salomo feiert in den Zeilen, die man heute nur noch auf Begräbnissen hört: »Alles hat seine Zeit. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: Geborenwerden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ernten hat seine Zeit, weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit.« (Kohelet 3, 1 - 8) Die Zeit gibt hier jedem Gefühl, je-dem Zustand seinen Sinn. Wenn Du weinst, ist jetzt eben die Zeit zu weinen. Und auch wenn Du stirbst, war genau dieser Moment anscheinend der dafür gesetzte Zeitpunkt. Als sei die Zeit etwas Bergendes, der Vorhang, hinter dem Gott waltet, der sinngebende Rahmen, der unser Leben stabil umfasst. Zu Salomons Zeiten gab es eben noch keine Deadlines und kein Multitasking. Entweder arbeiten oder ruhen. Entweder pflanzen oder ernten. Ich glaube weder, dass die rasende Unruhe, die ich gestern beschrieben habe, nur auf dem Mist meiner persönlichen Neurosen blüht, noch dass sie nur mit meinem Beruf zu tun hat. Wir alle, von der Verkäuferin bis zur Führungskraft, werden permanent von dem Gefühl gejagt, zu wenig Zeit zu haben, krabbeln panisch durch immer neue, immer kleiner werdende Zeitfenster und machen uns insgeheim Vorwürfe, nicht schnell genug zu sein. Bei uns im SZ-Cafe wird der Energydrink »28« angeboten, dessen Name insinuiert, dass der Tag nach dem Konsum vier Stunden mehr hat. Da die meisten Wirtschaftsprozesse längst hochgradig optimiert sind, kann man kaum noch schneller werden, sondern höchstens Zeit verdichten,also möglichst viel auf einmal machen und die einzelnen Tätigkeiten möglichst schnell abarbeiten, damit für all den Rest auch noch Zeit bleibt. Genau das versprechen uns ja das Netz und der Rechner. Weshalb wir Textverarbeitungssysteme, Exceltabellen, Mail, Skype, ein paar Homepages und verschiedene Worddokumente gleichzeitig geöffnet haben, während wir nebenher den Coffee to go trinken, Musik hören und ein paar Anrufe erledigen. Aus demselben Mangelgefühl heraus versuchen wir, permanent erreichbar zu sein, wochenends genauso wie in den Ferien. Freizeit ist vergeudete Zeit, schließlich rutscht, wer stehen bleibt, sofort nach unten. Der geregelte Arbeitstag, die Fünftagewoche mit privatem Feierabend muten mittlerweile so behaglich anachronistisch an wie Helmut Kohls wärmende Strickjacke, die im Haus der Deutschen Geschichte liegt als Erinnerung an die Wiedervereinigungsverhandlungen mit Gorbatschow, damals, als die Mauer wegmusste. Mittlerweile sind alle Mauern weg zwischen privat und beruflich, warum nicht abends schnell den Termin koordinieren, einen Trommelkurs für die Kinder suchen, noch ein paar Texte für das aktuelle Projekt durchgehen und einen Flug buchen? Da sich Abgabefristen längst von geregelten Arbeitszeiten abgekoppelt haben, müssen wir eben abends, wenn die Kinder im Bett sind, nochmal ran. Und ist doch super, wenn man am Sonntag noch zehn Mails beantwortet, dann muss man das nicht mehr am Montagmorgen im Büro machen. Nein, ich will nicht zurück in die Siebziger Jahre. Mir ist nur rätselhaft, warum wir alle uns diese perfide Steuerung über die Macht der Deadline als Freiheitszugewinn verkaufen lassen. Der amerikanische Soziologe Dalton Conley schreibt, wir seien keine Individuen mehr, die nach Authentizität streben, sondern » Intraviduen«, die gehetzt einen permanent weiter anschwellenden Strom von Messages, Anrufen, Kontakten und Daten zu managen versuchen. Das vermeintlich Wunderbare an unserer Zeit: Man kann rund um die Uhr gegen diese Panik anarbeiten. Früher war man an Zeiten gebunden, die Fabrik hat irgendwann zugemacht, die Anderen haben geschlafen. Heute sind alle rund um die Uhr wach, und unser treues Powerbook und das iPhone rufen uns mit ihrem gleichmäßig pulsenden Lichtpunkt ohnehin die ganze Nacht über zu, dass sie bereit sind und nur auf uns warten, schließlich gibt es genug zu tun, was vertrödeln Sie hier überhaupt Ihre Zeit mit diesem Buch, gerade sind doch schon wieder zwei Mails in Ihrem Account aufgelaufen. Und da die Geräte nicht mehr schlafen, warum schlafen wir noch, wir Schlappschwänze? Es ist nie genug. Wenn ich einen Zeitungstext geschrieben habe, ist da nur ganz selten das Gefühl der Befriedigung. Eher ist es, als würde ich im Keller meiner Angst eine Kartoffel unten aus einem ewig steilen Haufen ziehen: Sofort kollern aus dem Dunkel zehn andere hinterher. Die meisten Mails, die ich schnell beantworte, haben wiederum neue Antwortmails zur Folge. Ich würde ja gerne mal ins weite Rund der Leserschaft fragen, ob andere das genauso erleben. Mein Gott, gehen da viele Hände in die Höhe, Krankenschwestern und Professoren, Lehrer, Polizisten, Lkw-Fahrer, alle melden sich oder nicken murmelnd, soviel schichtenübergreifenden Konsens habe ich zuletzt bei Barack Obamas Wahlsieg erlebt. Eine Englischlehrerin steht kurz auf und trägt passend zum Thema ein paar großartige Sätze der amerikanischen Zeitbudgetforscher John P. Robinson und Geoffrey Godbey vor: »At present, American Society is starving - not the starvation of the Somalis or other traditional cultures, who die for lack of food, but for the ultimate scarcity of the postmodern world, time. (...) Starving for time does not result in death, but rather, as ancient Athenian philosophers observed, in never beginnig to live.« Da erhebt sich ein älterer Herr in beiger Windjacke und fragt zornig, was das denn bitte solle, er habe sich ein deutsches Buch gekauft und jetzt gehe es hier auf Englisch um Somalia oder was und ob das bitte einer übersetzen könne. Ich versuche ihm zu erklären, dass die deutsche Übersetzung in diesem Fall meines Erachtens nicht mithalten kann mit dem Original, weil das Verb zugleich Mangel haben und Hungers sterben bedeutet. Der Mann schüttelt den Kopf, sagt, das sei doch Angeberscheiße und geht. Wie schade. Im Aufzug unterhalten sich zwei Männer: »Du solltest das ganze Thema ihnen rüberpitchen, dann haben die den Ball im Feld und müssen reagieren.« »Ja, exakt, exakt.« Auf der Infoscreen, die im Aufzug das Angebot von Sueddeutsche.de zeigt, wird ein Gespräch mit einem weithin angesagten Interneteuphoriker beworben: »Das Netz wird zum Superhirn« steht da. Der eine der beiden Männer sagt in die versammelte Stille: »Ganz klar, Du pitchst das an alle, dadurch wird das erstens TOP und zweitens sind die dran, und dann forwardest Du das Ganze noch an mich.« Gäbe es einen gerechten Gott, die Erde würde sich nach einem solchen Dialog auftun und die beiden verschlingen. Nichts dergleichen geschieht,Erde bleibt zu,Aufzug geht auf,und die beiden Egobooster schreiten aus in einen weiteren Tag voller geilem Pitchen und Forwarden und ich denke, lieber Gott, wenn das Netz tatsächlich im Dunkel der Schaltungen, Kabel und Festplatten zu einem Superhirn zusammenwuchert, dann sorg bitte dafür, dass es kein Erwachsenensuperhirn ist. In der Schule habe ich gelernt, dass man eine Billion Neuronen im Gehirn hat, von denen man aber nur einen Bruchteil benutzt. Die Neuronen sind angeblich dafür da, dass man gute Ideen hat. Ein paar braucht man fürs Atmen, Laufen und Verdauen. Aber die meisten könnten eigentlich für prickelnde Unterhaltung sorgen. Warum ist das so selten der Fall? Gewöhnen sich die Neuronen im Laufe des Lebens eine Beamtenmentalität an, sitzen da oben rum wie in riesigen Bürogängen, machen Dienst nach Vorschrift und heften gelangweilt neuronale Vorgänge ab? Oder ist Erziehung ein Synonym für ein jahrelanges stilles Massaker unter all den verqueren Neuronenverbindungen, so dass am Ende nur ein paar öde, pfeilgerade Autobahnen übrigbleiben? Als ich meinen Sohn, die Geschichte ist vier oder fünf Jahre her, eines Nachmittags mal aus der Kinderkrippe abholte, lief auf dem Bürgersteig vor uns eine alte Nonne. Er sagte: »Schau mal, da läuft der liebe Gott. Der ist mit dem Fallschirm aus dem Himmel gesprungen und geht jetzt hier ein bisschen spazieren.« Ich sage nicht, dass mein Sohn großartig ist. Dreijährige sind alle so. Aus denen purzeln den ganzen Tag über die krudesten Sachen raus. Ich frage mich nur, warum ich so etwas nicht denke. Alle Erwachsenen, die an der Nonne vorbeiliefen, dachten in dem Moment: »Nonne.« Ein paar dachten vielleicht, sieh an, eine Dominikanerin, aber das waren die, die sieben Jahre lang Theologie studiert haben. Und selbst die wussten nicht, dass der liebe Gott am Nachmittag gerne seinen Fallschirm nimmt, um hier unten spazierenzugehen. Was passiert neurologisch in den Jahren, die zwischen dem dritten und dem dreißigsten Lebensjahr liegen? Warum wird aus dem wild wuchernden bunten Denken irgendwann das dürre, graue Rechthaben? Warum ist Phantasie etwas, was sich die meisten Leute irgendwann nicht mal mehr vorstellen können? Gespräche unter Erwachsenen sind so unterhaltsam wie das Kleingedruckte eines komplexen Leasingvertrages. Die Erwachsenen leiden ja meist auch darunter, dass sie selbst nur noch daherreden wie ein Leitzordner voller alter Rechnungen. Nur so lässt sich erklären, dass sie in ihrer Freizeit dann so Zeug wie Paolo Coelho oder Hape Kerkeling konsumieren. Sie haben Sehnsucht, aber wissen gar nicht richtig, wonach. Als ich meinen Sohn am nächsten Tag abholte, sagte ich: »Ob wir heute wieder den lieben Gott treffen?« Er schaute mich mitleidig an und sagte: »Aber Papa, es ist doch noch hell. Der arbeitet noch am Computer.« Sprachs, schwieg und schaute in die Welt hinein. Was er wohl gesehen hat? Und was diese Episode mit dem Internet zu tun hat? Ehrlich gesagt nichts, sie sollte zum Jahresausklang kurz Unterhaltung zwischendurch bieten. Nun aber zurück zum Problem des Zeitmangels, in unser aller Temporalsomalia, das hat nämlich sehr wohl mit dem Thema dieses Buches zu tun. ... [...] 33. Tag - Treueschwur aufs Netz Mir ist heute ganz feierlich zumute, ich richte mich in der Bürowohnung meines Freundes Axel ein, habe dort ein Zimmer, als Untermieter, ein kahler Tisch mit Fenster zum Hof, hier also soll der Großteil dieses Buchs entstehen. Außerdem gratuliere ich mir selber: Ich bin einen Monat offline und habe kein einziges Mal geschummelt. Hätte ich mir nicht zugetraut. Ich dachte, ich würde ab und zu, heimlich und verstohlen, irgendwo ins Netz gehen, in Internetcafés oder am Rechner meiner Frau. Ich hab's nicht getan. Ich habe bisher jeden Tag unter dem jeweiligen Datum ein kleines Dokument angelegt. Gestern, an Neujahr, hab ich all diese Dokumente mal wieder gelesen, in einen Ordner geschmissen und »Dezember« draufgeschrieben. Zwei Sachen sind mir beim Lesen aufgefallen: Erstens wurde mir fast schlecht, als ich meine Liebeserklärung an das Internet an einem der allerersten Tage noch mal gelesen habe. Nicht dass ich darin gelogen hätte. Aber was für eine übertriebene Winselei: »Ich mache all das nicht, weil ich das Internet doof finde. Im Gegenteil, ich finde es großartig, ein riesiges Versprechen, und es geht ja alles gerade erst richtig los.« Als hätte ich Angst, dass mir irgendwelche fanatischen Blogger mit dem Baseballschläger auflauern, wenn ich nicht erstmal devot den Treueschwur aufs Netz leiste. Interessanterweise ist in allen Texten, die sich kritisch mit dem Internet auseinandersetzen, irgendwo dieses geradezu rituell defensive Bekenntnis eingebaut, man habe ja erstmal rein gar nichts gegen das Netz oder die digitale Welt. Das sei schon alles super, two thumbs up, Bombenerfindung, und wie geil, dass man das Kinoprogramm, den Hausarzt und das Rezept für den Rote-Bete-Walnuss-Salat auf Knopfdruck finde. Außerdem verfolge man die permanente Verbesserung der Geräte selbst mit frenetischer Begeisterung und kaufe sich jedes Gadget mit einer Art Weihnachtssehnsucht. Aber. Und dann erst kommt es. Solche rhetorischen Verteidigungsschleifen lassen sich in nahezu allen kulturkritischen Texten seit Anfang des 19. Jahrhunderts finden, seit sich die Beweislast sozusagen zugunsten der Modernisierer umdrehte. Friedrich Ancillon bemerkt schon 1823, dass diejenigen, die an Bestehendem festhalten wollen, ihre Argumente gegen die Erneuerer und Beschleuniger mittlerweile wie Angeklagte vorbringen müssten, weil die Moderne eine Zeit sei, in der die Dynamik per se Recht habe. »Alles ist beweglich geworden, oder wird beweglich gemacht, und in der Absicht, oder unter dem Vorwand, Alles zu vervollkommnen, wird Alles in Frage gezogen, bezweifelt und geht einer allgemeinen Umwandlung entgegen. Die Liebe zur Bewegung an sich, auch ohne Zweck und ohne ein bestimmtes Ziel, hat sich aus den Bewegungen der Zeit ergeben und entwickelt. In ihr, und in ihr allein, sucht man das wahre Leben.« Nein, ich will weder den Kulturkritiker spielen noch will ich so polemisch oder einseitig gegen das Netz lospoltern wie der Quartalsirre Henryk M. Broder gegen den Islam. Ich finde nur interessant, dass ich selber es anscheinend für nötig halte, gleich zu Anfang dieses eilfertige Bekenntnis abzuliefern: Wirklich, Leute, Ehrenwort, ich und das Netz, wir sind auf du& du. Das ist ja wie Oskar Lafontaine, der seinerzeit im Wahlkampf staksig in der Disco rumtanzte, um zu zeigen, dass die SPD die Partei der jungen Menschen in diesem Lande sei. So, genug der Selbstanklagen, her mit dem Weihrauch. Das zweite, was mir nämlich auffiel: Ich habe keine Ahnung, ob das, was ich da geschrieben habe, schon was taugt. Schreiben gleicht dem Graben eines Tunnels, man wühlt sich alleine durchs Dunkel und weiß nie recht, ob die Richtung stimmt, aber all das jetzt zu lesen ist so, als wär ich einfach den dunklen Flöz mal in umgekehrter Richtung entlanggelaufen, und da war ich erstaunt, wieweit ich gekommen bin. Ob das am analogen Leben liegt? Bisher dachte ich immer, neben der SZ und der Familie ist keine Zeit für gar nix. Jetzt schreibe ich jede Nacht zwei Stunden, und es geht wunderbar ... [...]
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Alex Rühle überlebte ein halbes Jahr ohne Internet und E-Mail - Bericht eines Selbstversuchs
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