Beschreibung
'Kann man denn zu Kafka noch irgendetwas Neues sagen?', fragt der Soziologe und Philosoph Michael Löwy zu Beginn seines großartigen Essays - und schafft tatsächlich innerhalb weniger Zeilen einen Zugang zu dem deutschen Literaturklassiker, der ein völlig neues Licht auf einen der bedeutendsten Autoren der Moderne wirft. Löwy erzählt von biografischen, oft vernachlässigten Umständen und führt uns dabei den politisch sensiblen Kafka vor Augen, der als Schüler provozierend die rote Nelke am Revers trug, und der als Student enge Kontakte zum libertären Milieu seiner Heimatstadt Prag pflegte und begeistert anarchistische Autoren wie Pjotr Kropotkin las. Auf Grundlage einer sorgfältigen literarischen Analyse von Kafkas Romanen und wichtigsten Erzählungen erarbeitet Michael Löwy die These, dass vor allem Antiautoritarismus den roten Faden in Kafkas Werk bildet. Von der Rebellion gegen die Autorität der Väter über die Auseinandersetzung mit der (jüdischen) Religion bis hin zur schonungslosen Entlarvung der Brutalität kapitalistischer Verhältnisse und anonymer Apparate folgt Kafka diesem Grundmotiv. Dieser Analyse folgend beleuchtet Löwys Essay die erschreckende Aktualität des literarischen Werks von Franz Kafka.
Autorenportrait
Michael Löwy, Sohn jüdisch-wienerischer Eltern, wurde in Brasilien geboren, lebt aber seit 1969 in Paris. Er ist emeritierter Forschungsdirektor am CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung). Seine Bücher und Artikel wurden in 30 Sprachen übersetzt. Zuletzt von ihm erschienen: ad Walter Benjamin. Die Revolution als Notbremse. Essays, Hamburg 2022. Bruno Kern wurde 1958 in Wien geboren und lebt heute als freischaffender Lektor, Übersetzer und Autor in Mainz. Jüngste Veröffentlichung des promovierten Theologen und Philosophen: Man kann doch nicht nicht-leben. Texte zwischen Traum und Moderne, S. Marix Verlag 2023.
Leseprobe
Kann man denn zu Kafka noch irgendetwas Neues sagen? Und ob! Das will ich in diesem Buch zeigen. Ich meine in der Tat, dass es an der Zeit ist, einen anderen Blick auf dieses Werk zu riskieren, um sich seines faszinierenden rebellischen Potenzials bewusst zu werden. In seinem berühmten Aufsatz über Kafka hat Walter Benjamin zu dessen Werken eine Warnung ausgesprochen, die man leider kaum ernst genommen hat: 'Mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Misstrauen muss man in ihrem Inneren sich vorwärtstasten.' Die folgenden Ausführungen kann man in der Tat als ein vorsichtiges Herantasten verstehen, als eine Arbeitshypothese, die sich bewähren muss, als einen möglichen Ausgangspunkt für zukünftige Forschungen. Die Kommentare zu Kafka - ein wahrer Berg an Papier, der nicht aufhört zu wachsen - haben im Lauf der Zeit die Gestalt eines Turms zu Babel angenommen - eine treffende Metapher angesichts der 'Sprachverwirrung', zu der sie geführt haben, aber auch, weil dieses Unterfangen niemals an ein Ende kommt. Ist es eigentlich ein Zufall, dass es gerade die Frauen waren, die oft die interessantesten Zugänge zur Lektüre Kafkas erschlossen haben? Jedenfalls kann ich mich vor Autorinnen wie Hannah Arendt, Marthe Robert, Rosemarie Ferenczi und Marina Cacarocci-Arbib nur in Ehrfurcht verneigen. Ihre Arbeiten unterscheiden sich sehr deutlich von der grauen und eintönigen Masse eines guten Teils der 'Sekundärliteratur'. Ich stimme mit den Analysen dieser Frauen nicht immer völlig überein, doch ich stütze mich in hohem Maß auf etliche ihrer Beiträge, um meine eigenen Gedanken zu Kafkas Werk zu entwickeln, die dann doch in eine andere Richtung führen.