Beschreibung
Seit dem Tag, an dem der leblose Körper seiner Mutter aus dem Haus getragen wurde, lebt William Eng im Waisenhaus. Als er im Kino die schöne Sängerin Willow Frost sieht, ist er überwältigt. Täuschend ähnlich sieht sie seiner Mutter. Entschlossen, den fernen Filmstar aufzuspüren, läuft er fort, schlägt sich auf den Straßen Seattles durch, sucht sie in Theatern und Lichtspielhäusern. Er muss Willow Frost finden. Er muss beweisen, dass sie seine Mutter ist, und endlich erfahren, was damals passierte. Vor dem Hintergrund der Großen Depression im Seattle der dreißiger Jahre hat Jamie Ford einen berührenden Roman über einen Jungen geschrieben, der nicht aufhört, an die Liebe seiner Mutter zu glauben, der alles wagt, um sie wiederzufinden.
Autorenportrait
Jamie Ford wuchs in der Nähe von Seattles Chinatown auf. Seine chinesischen Verwandten nannten ihn »Ji Mai«, was bald zu »Jamie« wurde. Er ist Absolvent der Squaw Valley Community of Writers. Nach dem Bestseller »Keiko« ist »Die chinesische Sängerin« sein zweiter Roman. Jamie Ford lebt mit seiner Familie in Montana, USA.
Leseprobe
Sacred Hearts (1934) William Eng wurde von dem schnappenden Klatschen eines Ledergürtels geweckt. Dazu kreischten rostige Federn in seinem Bettgestell, ein ausgemustertes Stück aus Army-Beständen, auf denen die dünne, abgenutzte Matratze lag. Ohne die Augen zu öffnen, horchte er auf das Geräusch nackter Kinderfüße, die nervös über den kalten Holzboden huschten. Er hörte, wie Bettlaken schwungvoll zurückgezogen wurden, mit einem luftigen Rauschen, wie Segel, die sich im Wind blähten und bauschten. Und so ließ er sich, wie immer, von der günstigen Strömung seiner Fantasie woandershin treiben - weit weg von dem Sacred-Heart-Waisenhaus, in dem die Schwestern allmorgendlich die Bettlaken inspizierten und alle mit dem Gürtel züchtigten, die nachts ins Bett gemacht hatten. Er hätte sich gern aufgerichtet, um sich am Fußende seines Betts aufzustellen, wie die anderen, aber das ging nicht, ihm waren die Hände gebunden - im wahrsten Sinne des Wortes: Sie waren links und rechts ans Bettgestell gefesselt. "Sehen Sie, es funktioniert, ganz, wie ich gesagt habe", sagte Schwester Briganti zu zwei Wärterinnen, deren dunkle Haut durch ihre gestärkten weißen Trachten noch dunkler wirkte. Schwester Briganti hatte eine Theorie, was Bettnässen betraf: Sie führte es darauf zurück, dass Jungen sich nachts unsittlich berührten. Als Gegenmaßnahme fing sie an, Jungen zur Schlafenszeit ihre Schuhe an die Handgelenke zu binden. Als dies nichts nutzte, ging sie dazu über, ihre Hände ans Bettgestell zu fesseln. "Es ist ein Wunder", sagte sie, während sie das trockene Bettlaken zwischen Williams Beinen betastete und befühlte. Er beobachtete, wie sie sich bekreuzigte und dann innehielt, um an ihren Fingern zu schnuppern, wie auf der Suche nach Anzeichen, die ihren Augen und Fingern womöglich verborgen geblieben waren. Amen, dachte William, als ihm klar wurde, dass sein Bettzeug trocken war. Er wusste, dass Schwester Briganti, nicht anders als ein Waisenkind, sich angewöhnt hatte, stets auf das Schlimmste gefasst zu sein. Und sie wurde in dieser Erwartung nur selten enttäuscht. Nachdem alle Jungen losgebunden waren, der letzte kleine Übeltäter bestraft worden und sein Wehgeschrei verstummt war, durfte William sich endlich waschen, ehe es Frühstück gab. Er starrte die lange Reihe identisch aussehender Zahnbürsten und Waschlappen an, die an Wandhaken hingen. Am Vorabend waren es noch vierzig gewesen, aber jetzt fehlte eine Garnitur, und sofort tuschelten die Jungen aufgeregt darüber, wer der Ausreißer sein mochte. Tommy Yuen. William wusste die Antwort, als er sich im Waschraum umsah und kein Gesicht entdeckte, das seinem eigenen ähnelte. Tommy ist wohl in der Nacht weggelaufen. Damit bin ich der einzige chinesische Junge, der noch im Sacred Heart übrig ist. Die Traurigkeit und Isolation, die er unwillkürlich empfand, wurde dadurch abgemildert, dass er heute Morgen immerhin keine Schläge mit dem Gürtel bekommen hatte. Und vollends verscheucht wurde sie durch das erwartungsvolle Lächeln der anderen Jungen, während sie sich das Gesicht wuschen. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Willie", sagte ein sommersprossiger Junge im Vorbeigehen. Andere sangen oder pfiffen "Happy Birthday" vor sich hin. Es war der 28. September 1934, Williams zwölfter Geburtstag - tatsächlich ihrer aller Geburtstag; anscheinend war es auf diese Weise leichter, den Überblick zu behalten. Der 11. November wäre vielleicht passender, der Tag des Waffenstillstands, dachte William. Da einige der größeren Kinder hier im Sacred Heart ihre Väter ja im Großen Krieg verloren haben. Oder der 29. Oktober, der Schwarze Dienstag, als das gesamte Land ins Elend gestürzt ist. Seit dem großen Börsenkrach hatte sich die Zahl der Waisenkinder verdreifacht. Aber Schwester Briganti hatte entschieden, dass alle an dem Tag feiern sollten, an dem der ehrwürdige Papst Leo XII. sein Amt angetreten hatte - ein kollektiver Geburtstag, der mit einer Straßenbahnfahrt