Beschreibung
Am Anfang steht Barbara. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden: ihren Bruder Adam, ihre Freundin Nora und Yann, den Eindringling, der aus der Stadt neu zugezogen war. Sie alle sind mit der Verstorbenen und den Zwillingen Annemarie und Hans zur Schule gegangen. Es waren kinderreiche Zeiten, und die Enge im Elternhaus trieb die Kinder nach draußen. Doch unter den Erinnerungen an das Jagen über die Felder oder jenes Streichholzspiel auf dem Pausenhof liegt etwas anderes, Unausgesprochenes begraben: In einer unbeobachteten Nacht verübten sie ein Gewaltverbrechen an einem von ihnen. Einen starken Sog auslösend, erzählt Mahlstrom die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.
Autorenportrait
Yael Inokai (vormals Pieren) wurde 1989 als Tochter einer Deutschen und eines Ungarn in Basel geboren. Philosophiestudium in Basel und Wien; seit 2014 Studiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. Tätigkeit als Fremdenführerin. Publikationen in verschiedenen Literaturzeitschriften sowie auf *Zeit online*. Aufenthaltsstipendium Literarisches Colloquium Berlin, Hildesheimer Stadtschreiberin für *Bella Triste*. Nach ihrem viel beachteten Debüt *Storchenbiss* (2012) legt sie nun mit *Mahlstrom* ihren zweiten Roman vor.
Leseprobe
Tiere ertranken so. Sie gerieten in die scheinbar harmlose Strömung, die sie unter den Felsvorsprung trieb. Das Wasser dort war nur etwas uber einen Meter tief, aber war man einmal in die Kuhle geraten, ließ es einen nicht mehr frei. Es bundelten sich die Kräfte eines ganzen Flusses, gegen die kein Strampeln und kein Rudern je hätten ankommen können. Der Fluss schwemmte die aufgequollenen Kadaver an Land, wenn er sie nicht mehr haben wollte. Wir warfen sie zuruck. Er spuckte sie erneut aus. Barbara hätte er beinahe nicht hergegeben. Obwohl der Körper schon vollgesogen und aufgeweicht war, hielt ihn das Wasser weiter in seinem kräftigen Griff. Nur ihr Rock hätte es fast aus der Kuhle heraus geschafft. Vom aufgehenden Körper in zwei Teile gerissen, reckte er sich bis zur Wasseroberfläche. Er zitterte in der Strömung, wie eine Fahne, die dem Suchenden sein Ziel verriet. An dieses Stoffstuck klammerte sich der Vater. Er umschloss es mit der Faust, ehe er weitertastete. Er fand den dicken Wollstoff, und er fand Haare. Er griff nach ihnen und zog ein ganzes Buschel nach oben. Und uber diese Haare dann der Schrei, von dem jeder Einzelne sagte, er habe ihn gehört. Der Schrei lockte die Männer, die den Körper zu bergen versuchten. Sie standen im Wasser, das ihnen nicht einmal bis zu den Huften reichte und gegen das sie trotzdem nicht ankamen. Sie verfluchten es und droschen mit den flachen Händen darauf ein. Sie schrien in Richtung Himmel, als dieser Protest unbeantwortet blieb. Daraufhin, behaupteten später ein paar, hätten die Wolken sich von den Rändern des Tals aus aufeinander zubewegt und zu einem grauen Teppich verwebt. Erst sei es noch trocken geblieben, aber dann habe sich der Himmel entladen: klumpiger, bräunlicher Regen, der Dreck eines ganzen Winters.