Beschreibung
Kurze Rückblende an den Anfang. Denn eigentlich hatte diese EM keine Chance. Wie auch die Isländer keine Chance gegen die Engländer hatten, eigentlich. Geht man von dem aus, was anfangs gesendet, gemutmaßt, geunkt und geschrieben wurde, war klar, dass das Turnier scheitern musste. Ebenso wie klar war, dass Island niemals dieses Achtelfinale in Nizza gewinnen könne. Die besten Kicker aus 330 000 Insulanern gegen die talentiertesten der 53 Millionen Engländer - was sollte da passieren? Sieg für Island? Es war bei Londoner Buchmachern wie Ladbrokers oder William Hill eine aussichtslose Wette mit einer extremen Quote. Um einiges höher noch als jene, dass Britannien den Brexit vollziehen werde. Beides ist im Verlauf dieser EM geschehen. Wie überhaupt jeder, der eine Glaskugel daheim hatte, einen Schimpansen oder einen Tintenfisch mit der Begabung zum Orakel, viel mehr als nur das Futter hätte verdienen können. Die EM war eine Spielfläche für Außenseiter, was all jenen ein Trost sein kann, die fürchten, im Zeitalter von Digitalisierung und Kontrollwahn werde eh alles orhersehbar. Jetzt, im Lichte der Resultate, wäre die folgende EM-Kombi-Wette einen Einsatz wert gewesen: a) Island schlägt England. b) Wales wird erst im Halbfinale gestoppt. c) Turniersieger wird Portugal, eine Mannschaft, die in der Vorrunde drei Mal remis spielt, und die von sieben Spielen nur ein einziges in der regulären 90-Minuten-Spielzeit gewinnt. d) Ausgerechnet Deutschland, das Mittelstürmerland, scheidet aus, weil es im Halbfinale keinen Mittelstürmer hat; keinen Seeler, keinen Müller (Gerd), keinen Völler, keinen Klose. Und dann eine Zusatzwette darauf, dass e) der Fußball-Weltmeister im Turnier die Sportart wechselt und sich durch Handball-Szenen im Strafraum den Knockout selbst versetzt. Wichtig für solche Sport-Wetten ist das Timing. Man hätte sie deshalb am ersten EM-Wochenende platzieren müssen, als die Stimmung nah am Weltuntergang balancierte. Die Sicherheitskräfte fahndeten nach Terror-Verdächtigen, nach Komplizen jener, die im November 2015 in Paris 130 Menschen getötet hatten. Doch aus dem Nebel der Bengalos tauchten ganz andere Gewalttäter auf, Hooligan-Touristen aus England und Russland, die blutige Bilder ihrer Schlacht im Hafen von Marseille ins globale Netz stellten. Gegen diese einschüchternde Kombination, Terrorangst und Fan-Schlachten, schien das Turnier anfangs nah vor der Kapitulation zu stehen. Doch es erholte sich, obwohl nicht der allerbeste Fußball zu beklatschen war. Wenn in Frankreich etwas fehlte, dann das sportliche Spektakel. Manche Stars waren müde, manche glücklos, manche lieferten aber auch starke Bilder wie Gareth Bale mit den Walisern oder Cristiano Ronaldo. Der musste am Ende verletzt zusehen, wie im Finale die Königswette stach. Wie Portugal, der Außenseiter, beim favorisierten Gastgeber den Titel entführte. Die Autoren dieses Buches erzählen viele solcher David-gegen- GoliathGeschichten. Wie der Kleine den Großen zwingen kann, wie ein Ziel, das aussichtslos fern erscheint, doch zu erreichen ist. Und so hat diese Tour de France vermutlich auch all denen etwas Mut gemacht, die hoffen, dass die europäische Idee trotz des Brexit noch lange nicht verloren ist. Klaus Hoeltzenbein, Sportchef
Autorenportrait
Klaus Hoeltzenbein, Jahrgang 1959, ist Ressortleiter des Sportteils der Süddeutschen Zeitung.