Beschreibung
Johanna steht am Bett ihrer toten Mutter und hört, wie sie atmet. Mit dieser Sinnestäuschung beginnt die Inventur einer Kindheit. Den Plastiksack mit den letzten Habseligkeiten der Verstorbenen in der Hand, verläßt Johanna das Krankenhaus, in das sie zuletzt täglich von ihrem 100 Kilometer entfernten Wohnort aus angereist war. Nun kehrt sie zurück in die mütterliche Wohnung, in der sie selbst vor langer Zeit einmal gelebt hat. Zwanghaft sortiert sie die Textilien nach Temperaturverträglichkeit, und während das Wasser in die Waschmaschine läuft und die Trommel zu rotieren beginnt, werden kaum beachtete alltägliche Dinge zu Auslösern für die Erinnerung an vergessene Wörter und Erlebtes. Früher Selbstverständliches wie die tägliche Fahrt von Mutter und Tochter zum Grab des Großvaters erscheint nun in einem unheimlichen, verstörenden Licht. Und überhaupt wird plötzlich fragwürdig, was einmal so harmonisch wirkte zwischen den beiden. Die Genauigkeit und die bohrende Intensität, mit der Angelika Overath ihre Protagonistin die verschütteten Erinnerungen zur Sprache bringen läßt, gibt eine Ahnung davon, wieviel Ungesagtes darin mitschwingt. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Geschichten aus dem Sudetenland, die Mutter und Großmutter seinerzeit mehr verschwiegen als erzählt haben. Johanna, die immer wieder versucht, die Wohnung zu verlassen, sitzt gespenstisch fest - bis sie gegen Mitternacht eine Pizza bestellt und die Pizzabotin Svetlana, eine rußlanddeutsche Lehrerin aus dem Kaukasus, sich zu ihr an den Küchentisch setzt.
Autorenportrait
Die Autorin Angelika Overath, geb. 1957, studierte Germanistik und Geschichte. Sie arbeitet als freie Autorin und Literaturkritikerin. 1996 wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, 2005 mit dem Thaddäus Troll-Preis, 2006 mit dem Ernst Willner Preis in Klagenfurt ausgezeichnet und 2012 erhielt sie den Sudetendeutschen Kulturpreis für Literatur. Veröffentlichungen: Händler der verlorenen Farben. Wahre Geschichten (Libelle 1998, Neuauflage 2005); Vom Sekundenglück brennender Papierchen. Wahre Geschichten (Libelle 2000).