Beschreibung
In Kinder der Natur macht sich Luljeta Lleshanaku auf die Suche nach ihrer Kindheit und damit ihrer Erinnerung an die Zeit, als sich der albanische Kommunismus auf seinem Höhepunkt befand. Eine Zeit der heimlichen Gebete, weil Religionsausübung verboten war, eine Zeit der heimlich gelesenen Bücher, weil ein Großteil der europäischen Literatur von der Zensur verboten war. Hier - zwischen Bergdörfern, Kastanien und wegbrechender Zukunft, wo der 'Frühling die Einsamkeit mit seiner Einsamkeit tötet' - tut sich niemand leid, und es gibt weder Opfer noch Täter, höchstens eine Art höhere Macht, mit der man umgehen muss und leben. Lleshanakus Gedichte erzählen jeweils Geschichten, die uns allen nahe gehen, weil wir die Protagonisten auch aus eigener Erfahrung kennen. Väter, die man nie oft genug besucht, der Geschmack von Milch, die erste Rasur. Doch so wie die Autorin es beschreibt, haben wir es noch nie gesehen. Ihre Poesie ist von großer Genauigkeit, eindringlich, feinsinnig und humorvoll. Jede Wendung ist überraschend, wirkt aber dennoch nicht gesucht, sondern wie natürlich gewachsen und von unverwechselbarer Hellsichtigkeit.
Autorenportrait
Luljeta Lleshanaku, geb. 1968 in Elbasan, studierte Sprachen und Literatur in Tirana, wo sie auch heute lebt. Sie übersetzt aus dem Amerikanischen und ist Mitarbeiterin der Zeitung 'Rlindja'. In der Zeit der kommunistischen Diktatur war sie starken Repressionen ausgesetzt und konnte folglich erst nach dem Sturz Enver Hoxhas an der Universität studieren. Seit 1993 sind acht Gedichtbände erschienen. Für ihre Lyrik wurde sie u.a. 2009 mit dem Kristal-Vilenica-Preis ausgezeichnet.
Leseprobe
GELBE BÜCHER Eine Zeit, die kaum Wahrheiten hat, kennt auch keine Tabus. Vielleicht ist dieses gelbe Buch eines der wenigen, obwohl ich von ihm nur den Vorgang des Versteckens in Erinnerung behalten habe. Es ist heiß. Das Essen wird langsam serviert, wie jeden Abend, zur festgesetzten Stunde. Die Stunde, da wir uns gegenseitig zudecken. Etwas Schnelles, ein Kalbskopf. Mein Anteil ist die Zunge. Man sagt, wenn man eine Zunge isst, wächst sie einem, und wenn man ein Auge isst, bringt es Glück. Wer Bücher isst, isst sich selber, Stück für Stück, von den Ecken her zum Kern, wie die Erntemaschinen auf den Kollektivhöfen. Vom Tischfuß her die Evolutionslehre, 'Die Starken sterben; die Schwächeren überleben!' auf sehr originelle Weise, indem sie die Bettler mit Handzeichen bedauern. Und nichts unterscheidet es von einem heiligen Mahl, bei dem Brot und Seele in gleiche Portionen geteilt werden, die einzigen Wahrheiten - heimlich gelesen, verwandelt während des Austausches, wie die gelben Bücher.