Beschreibung
Allerorten wird in den letzten Jahren ein »Recht auf Stadt« eingefordert - von sozialen Protestbewegungen gegen Gentrifizierung weltweit. NGOs und UN-Organisationen postulieren es gleichermaßen. Kritische Stadtforscher wie David Harvey, Peter Marcuse oder Niels Boeing beziehen sich in ihrer radikalen Gesellschaftskritik auf Henri Lefebvre, der das Konzept 1968 entworfen hat - in einer Schrift, die hier nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt. »Recht auf Stadt« ist mehr als die individuelle Freiheit, auf städtische Ressourcen zugreifen zu können. Es ist das Recht auf ein erneuertes urbanes Leben. Angesichts der sozialen Probleme in den desolaten Hochhaus-Vorstädten und anderer Folgen des rasanten Städtewachstums nach dem Zweiten Weltkrieg stellte Lefebvre schon in den sechziger Jahren fest, dass der Urbanisierungsprozess einhergeht mit einem Verlust der Stadt als Ort der kreativen Schöpfung, zugunsten einer bloßen industriellen Verwertungslogik. Er postuliert aber keine Abkehr von der Stadt - etwa in die zeitgleich entstehenden amerikanischen Mittelklasse-Vororte -, sondern macht in der Stadt ein enormes Potenzial aus, das zu einer emanzipierten urbanen Gesellschaft führen kann. Das Recht auf Stadt ist ein gesamtgesellschaftliches Anrecht auf Begegnung, Teilhabe, Austausch, das große Fest und einen kollektiv gestalteten und genutzten städtischen Raum.
Autorenportrait
Henri Lefebvre, 1901-1991, französischer Soziologe und Philosoph. 1928 trat er in die KPF ein, aus der er später ausgeschlossen wurde. 1940 ging er in die Résistance. Nach dem Krieg arbeitete er beim Kulturradio und am Centre national de la recherche scientifique (CNRS); seit den frühen 1960er Jahren lehrte er Soziologie an der Universität Straßburg, der Reformuniversität Nanterre und zuletzt am Institut dUrbanisme in Paris.
Leseprobe
Zwischen 1848 und Haussmann erreicht das Leben in Paris so seine höchste Intensität: nicht das »Pariser Leben«, sondern das urbane Leben der Hauptstadt. Diese geht damals in die Literatur, in die Poesie ein, mächtig und gigantisch. Danach ist Schluss. Das städtische Leben beinhaltet Begegnungen, Konfrontiertwerden mit Unterschieden, gegenseitiges Kennen und Anerkennen (samt ideologischer und politischer Auseinandersetzungen) von Lebensweisen, »Patterns«, die in der Stadt nebeneinanderbestehen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hätte sich die Demokratie bäuerlichen Ursprungs, deren Ideologie die Revolutionäre beseelte, in städtische Demokratie verwandeln können. Darin bestand damals und besteht noch heute eine der geschichtlichen Bedeutungen der Commune. Doch da die städtische Demokratie die Privilegien der neuen herrschenden Klasse bedrohte, hinderte diese sie an der Entstehung. Wie? Indem sie durch Zerstörung der »Urbanität« das Proletariat aus dem Stadtzentrum und der Stadt selbst vertrieb.