Beschreibung
1910 bis 1915: Dies sind die Jahre, in denen sich der junge, ungebundene, beeinflussbare Kafka verwandelt in den verantwortungsbewussten Beamten und zugleich in den Meister des präzisen Alptraums und des >kafkaesken< Humors. In kürzester Frist entstehen >Das Urteil<, >Die Verwandlung<, >Der Verschollene< und >Der Process<, und in rascher Folge werden alle Weichen gestellt, die Kafkas weiteren Weg bis zum Ende bestimmen werden: die Begegnung mit dem religiösen Judentum, die ersten Schritte in die Öffentlichkeit, die Katastrophe des Kriegsausbruchs und vor allem die verzweifelt umkämpfte und dann doch scheiternde Beziehung zu Felice Bauer. Es sind Jahre beispielloser Intensität: das Zentrum von Kafkas Existenz. Stachs Schilderung ist atmosphärisch dicht und bietet Panoramablicke über Kafkas Welt ebenso wie Nahaufnahmen aus seinem Alltag, wobei auch neueste, bisher unveröffentlichte Forschungsergebnisse aufgenommen werden. Die bildhafte Erzählweise, die den Leser alle Entscheidungssituationen fast filmisch miterleben lässt, setzt neue Maßstäbe in der deutschsprachigen Biographik.
Autorenportrait
Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern. 1987 erschien seine Monographie >Kafkas erotischer Mythos<. 1999 gestaltete Stach die Ausstellung >Kafkas Braut<, in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. 2002 und 2008 erschienen die ersten beiden Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach für >Kafka: Die Jahre der Erkenntnis< mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet. Für sein herausragendes Gesamtwerk auf dem Feld der literarischen Biographik erhielt er 2016 den Joseph-Breitbach-Preis.Literaturpreise:2003 Kulturförderpreis des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land2008: Sonderpreis zum Heimito von Doderer-Literaturpreis2016: Joseph-Breitbach-Preis
Leseprobe
Prolog Der schwarze Stern Mittwoch, 18. Mai 1910. Ein Himmelskörper nähert sich der Erde. Seit Monaten schwatzen Zeitungsmeldungen von einem möglichen Zusammenstoß, von gigantischen Explosionen, von Feuerregen und Flutwellen, vom Weltuntergang. Schon prähistorische Zeiten kannten ihn, die Menschen des Mittelalters versetzte er in gläubige Panik. Längst aber hat sich herausgestellt, daß der Halleysche Komet eine pünktlich wiederkehrende Erscheinung ist. Kein von himmlischen Mächten gesandter Unglücksbote, sondern ein elliptisch um die Sonne wandernder Klumpen aus porösem Gestein und Eis, dessen Auftauchen man auf Tag und Stunde genau vorhersagen kann. Alle 76 Jahre tritt er aus dem Dunkel sonnenferner Räume und zieht eine Schleppe aus Licht über den Himmel. Woraus dieses Feuerwerk besteht, weiß man seit Erfindung der Spektralanalyse: Kohlenwasserstoffe, Natrium, alles längst bekannte Elemente und Verbindungen. Ein wenig Blausäure, für den Menschen tödlich, ist auch darunter. Daß der Kern des Kometen schwarz ist, schwärzer als Kohle, weiß man noch nicht. Die Fachleute winken ab. Halley wird, wie stets, die Erde verfehlen, diesmal um mehr als zwanzig Millionen Kilometer. Nur der Schweif des Kometen wird die Atmosphäre streifen, Gas und ein wenig Staub in unendlicher Verdünnung. Gefährlicher wäre ein Spinnwebfaden für einen laufenden Elefanten, spöttelt ein Berliner Astronom, um den immer gleichen sensationsheischenden Fragen ein Ende zu machen. Es hilft nichts. Wer an den Weltuntergang glauben will, hält sich an die Blausäure. Am unbelehrbarsten ist die Hysterie in den Vereinigten Staaten, wo gewiefte Propheten leichtes Spiel haben, ihrer Schar den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen. Das aufgeklärte Europa ist gespalten. Während die Kometenfurcht in randständigen, ländlichen Gebieten die Menschen verdüstert und einige gar zu Verzweiflungstaten treibt, reagiert die Unterhaltungsmaschinerie der Metropolen schon ironisch. Der Komet ist ein event, der Weltuntergang eine Gelegenheit zum Feiern, die so bald nicht wiederkehren wird. In Paris bleiben Restaurants bis zum Morgengrauen geöffnet, Menschentrauben schieben sich von Bar zu Bar, es herrscht Feststimmung. Auch in Wien sind Tausende unterwegs; auf dem Kahlenberg, dem Logenplatz über der Stadt, kampieren seit Tagen ganze Familien. Ruhiger geht es in den Provinzstädten zu, hier regiert die Neugierde. Man feiert nicht, man exaltiert sich nicht, aber verpassen will man auch nichts. So zum Beispiel in Prag, wo unter den nervösen Blicken der Polizei die Karlsbrücke zum Treffpunkt der Flaneure wird, bis lange nach Mitternacht. Der Tag war heiß, die laue Nacht weckt die Lebensgeister. Wer freie Sicht auf den nächt-lichen Himmel will, schlendert hinauf zu den höher gelegenen Stadtteilen, zum Riger-Park, aufs Belvedere-Plateau, auf den Laurenziberg. Einige Hundert Menschen gehen hier vorsichtig umher, viele mit Operngläsern, und das Dunkel ist erfüllt von gedämpften Gesprächen. In einer dieser Gruppen wird besonders angeregt geplaudert, denn Literaten sind es, die hier beisammen sind: Ein gewisser Franz Blei aus München, knapp vierzig Jahre alt, seit wenigen Stunden erst zu Besuch in Prag, begleitet von seiner Frau Maria, einer vermögenden Zahnärztin, und dem gemeinsamen Sohn; daneben der 26jährige Max Brod, Postbeamter und Schriftsteller, der heute einen erotisch besonders desolaten Tag hatte und den nach Aufmunterung verlangt; seine ebenfalls noch unverheiratete Schwester Sophie; und schließlich, schmal, sehnig, ein Jahr älter als Brod und einen Kopf größer als alle anderen, der Versicherungsbeamte Franz Kafka, auch er ein Dichter, der auf den fünfzehn Seiten, die er bisher veröffentlicht hat, das Talent einer künftigen Lokalgröße durchaus erahnen läßt. Es sind wohl eher die Frauen, die sich von der Erscheinung des Kometen etwas erwarten; die Männer haben anderes im Sinn, und keiner von ihnen wird den besonderen Anlaß dieses Spaziergangs noch einer Erwähnung wert finden. Nich
Schlagzeile
Die erste große Kafkabiographie in deutscher Sprache