Beschreibung
Der Erfolg scheint Vittoria Montis ständiger Begleiter zu sein, gewandt und polyglott weiß sich die fünfzigjährige Pariser Architektin jederzeit in bestem Licht zu präsentieren. Mit dem Neubau des Mariinskij-Theaters in St. Petersburg steht ihr auch schon die nächste Herausforderung bevor. Da begegnet diese "Kriegerin der Einsamkeit" in der St. Petersburger Eremitage einem Mann. Eine Beziehung entsteht, die bisher verborgene Wünsche nach Nähe, Vertrautheit und Intimität offen legt. Mit kenntnisreichen Seitenhieben auf die Rankünen des globalisierten Kulturbetriebs erzählt Evelyn Schlag die ewig junge Geschichte von der großen Liebe in der Mitte des Lebens und von der Angst vor dem Glück.
Autorenportrait
Evelyn Schlag, geboren 1952 in Waidhofen an der Ybbs, wo sie auch lebt. Sie studierte Germanistik und Anglistik und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Anton-Wildgans-Preis und den Österreichischen Kunstpreis. Bei Zsolnay sind zuletzt der Roman Die große Freiheit des Ferenc Puskás (2011) und der Gedichtband verlangsamte raserei (2014) erschienen. 2016 wurde ihr neuer Roman Yemen Café veröffentlicht.
Leseprobe
Durchlässige Wände ist das letzte, was man in St. Petersburg will. Diese Wohnung war eine Kommunalka, hier haben manchmal acht Leute gelebt. Meine Freundin Ksenia, die schon gestorben ist, wohnte in einer Kommunalka in der Eremitage. Das ist kein Witz. Es gibt noch immer ein paar Kommunalki dort. Ich habe das Zimmer von Ksenia genau in Erinnerung. Eine Herrschaftswohnung mit Parkettböden, Stuckdecken, Holztäfelungen, im Sozialismus völlig verkommen. Die elektrischen Leitungen und Gasrohre wild verlegt, die Zimmer durch Bretterwände abgetrennt. Das waren Kommunikationssysteme. Natascha räusperte sich. Was haben Sie noch vor in St. Petersburg? Es ist nicht Ihr erster Besuch hier? fragte Galina. Toria blickte auf ihre Armbanduhr. - Nein nein, ich war schon hier. Wenn nicht zu viele Leute anstehen, möchte ich in die Eremitage. In einem der Matisse-Säle hängt ein Jardin du Luxembourg. In Paris wohne ich gleich über die Straße in der Rue Soufflot. Alle drei standen gleichzeitig auf. - Am besten, Sie nehmen am Nevskij vorne den Bus, sagte Galina. Natascha, du begleitest Madame Monti hin. Das ist nicht nötig, sagte Toria schnell, obwohl sie sich nichts mehr wünschte, als nicht allein den Weg dorthin zurücklegen zu müssen. Die Metro kam jetzt nicht in Frage. Taxis waren auch ein Wagnis. Eins der verrosteten Fahrzeuge aufzuhalten wie Innokentij traute sie sich schon gar nicht zu. Nie in ein Auto steigen, in dem außer dem Fahrer noch jemand sitzt. Vielleicht hatte ihr Panikanfall vorhin damit zu tun, dass sie außerhalb von Paris meistens abgeholt wurde und sich selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln herumschlagen musste. Mit wahnsinnigen Rolltreppen wie hier. Wie hatte sie das früher gemacht? In meinem Beruf kann ich mir solche Zustände nicht erlauben, dachte sie. Wenn das jemand bemerkt. aber ich habe das noch nie gehabt, nicht so arg, nicht so. Ich begleite Sie zu Eremitage, sagte Natascha. Dann treffe ich Innokentij, wenn er fertig ist mit Unterricht in Rimskij-Korsakov-Konservatorium. Im OBus spürte sie kein bisschen Angst. Sie wollte sich nicht dauernd beobachten. Die Palais zogen langsam vorüber, der Gostinny Dwor, dort hatte sie einmal mit Schokolade überzogene Mandeln gekauft. Das würde sie jetzt beruhigen. Aber sie hatte keine Angst, sie freute sich auf die Eremitage, in der mehr als fünfzig Katzen wohnten. Sie war neugierig auf das Bild des Jardin du Luxembourg, das ihr bei ihrem ersten Besuch vor einigen Jahren nicht aufgefallen war. Auf der Einfassung des Rasens vor dem Museum saß ein kleiner Bär an der Kette. Toria schaute schnell weg. Vielen Dank, sagte sie zu Natascha, als sie am Tor zum Hof ankamen. Die Schlange der Wartenden war kurz, vielleicht eine Viertelstunde. Natascha bestand darauf, dass Toria sie jederzeit auf dem Handy anrufe, falls sie etwas brauche. Natascha ließ sich mit keiner Miene anmerken, dass dies etwas anderes als eine Möglichkeit sein könnte, ein wenig von dem Geschenk des Stipendiums abzutragen. Toria rückte stetig vor. Manchmal konnte man sogar zwei oder drei Schritte machen, dann fühlte man sich schon sehr beschleunigt. In der Garderobe gab sie ihren Mantel bei einer Frau ab, auf deren Scheitel zwei breite weiße Streifen das karottenrot gefärbte Haar so entschieden verdrängten, dass Toria meinte, dabei zusehen zu können. Sie wollte zuerst ins oberste Stockwerk zu den Matisse-Sälen gehen, blieb bei den hohen Fenstern stehen, die auf die Newa hinausblickten. Die Striemen der Regengüsse hatten den Schmutz immer nur ein Stück weit abgewaschen. Auf dem Weg hinauf fand sie sich unerwartet in einem Gang, der zu einer kleineren Treppe führte. Besucher kamen ihr entgegen, in dieser Richtung war sie offenbar allein unterwegs. Es gab ihr das Gefühl, zu spät zu kommen, eine Information verpasst zu haben, weltfremd zu sein. Alle wussten, wo man bequem und folgerichtig in diesem riesigen Gebäude hochstieg. Nur sie musste sich ans Geländer drücken, um nicht von der träge herunterfließenden Tourist Leseprobe